Das Göttinger “boat people projekt” lebt Diversität in allen Bereichen – von der Bühne über das Publikum bis hin zur Leitungsebene. Welchen Herausforderungen das Team dabei begegnet, davon berichtet Theatermacher Reimar de la Chevallerie.
Das boat people projekt ist ein als Verein und Kollektiv organisiertes Freies Theater in der Göttinger Weststadt. Seit 2009 steht politisches Theater zu den Themen Flucht und Migration auf dem Spielplan. Damals arbeiteten die Theatermacherinnen und Gründerinnen Luise Rist und Nina de la Chevallerie vor allem mit Geflüchteten zusammen und brachten gemeinsam deren Fluchterfahrungen auf die Bühne und an die Öffentlichkeit. Auch Theatermacher Reimar de la Chevallerie war damals schon beteiligt und erinnert sich: “Durch die Residenzpflicht war es sehr schwierig, mit Geflüchteten aus den umliegenden Städten zusammenzuarbeiten.“ Als im Zuge der großen Migrationsbewegungen im Sommer 2015 wieder viele professionelle Theatermacher*innen aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland kamen, wollten auch die großen städtischen Theater Ensembles mit Geflüchteten gründen, berichtet de la Chevallerie. „Wir waren damals sozusagen bereits Expert*innen für die Zusammenarbeit mit Geflüchteten und viele kamen auf uns zu und haben uns nach unserer Expertise gefragt.“
Der Werkraum: Die Werk- und Wirkstätte des boat people projektes in der Göttinger Weststadt
Soziokultur in der Göttinger Weststadt
Neben den Schauspielproduktionen bietet das boat people projekt heute auch viele soziokulturelle Angebote an. In den sogenannten „Clubs“ für Kinder, Jugendliche oder Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen arbeiten diese gemeinsam an Film-, Musik- und Theaterprojekten. Die Projekte sprechen insbesondere auch Menschen aus den umliegenden Unterkünften für Geflüchtete an. Hier kommen Neu- und Alt-Göttinger*innen zusammen. „Das ist supertoll für den Stadtteil, der in Göttingen oft als ein sozialer Brennpunkt betrachtet wird“, berichtet de la Chevallerie. Das Theater liegt in einem Gewerbegebiet, circa drei Kilometer vom Göttinger Hauptbahnhof entfernt.
Die jungen Eriks sind eine regelmäßige Theatergruppe junger Erwachsener mit und ohne Beeinträchtigungen | © boat people projekt e.V.
Besonders wichtig ist es dem boat people projekt, auch für ein diverses Publikum zu spielen. „In unserem Team arbeitet eine transkulturelle Netzwerkerin, welche gezielt unterschiedliche Publikumsgruppen anspricht und auf unser Programm aufmerksam macht“, erzählt de la Chevallerie. Mit dieser direkten und auf Nachhaltigkeit zielende Ansprache und auch neuen technischen Mitteln, wie den Augmented-Reality-Brillen, durch die eine direkte Übersetzung in verschiedene Sprachen möglich ist, erreicht das Theater mittlerweile Gäste aus vielen verschiedenen Gruppierungen.
Vorherrschende Machtstrukturen aufbrechen
Auch das siebenköpfige Kernteam und die 50 weiteren mitarbeitenden Performer*innen, Musiker*innen und Techniker*innen setzen sich heute aus Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und kultureller Hintergründe zusammen. Viele haben auch selbst eine Flucht- oder Migrationsgeschichte. Um einen Umgang mit nach wie vor bestehenden Hierarchien und Privilegien zu finden, bildet sich das Team in Workshops stetig weiter. Es wird viel über patriarchale und koloniale Machtstrukturen diskutiert und versucht, diese aufzubrechen – nicht ohne sich auch immer wieder selbst kritisch in Frage zu stellen. Reimar de la Chevallerie, der sich als privilegierten weißen Mann bezeichnet, erinnert sich, dass eine Kollegin in einem dieser Workshops einmal zu ihm sagte: „Ich habe das Gefühl, dass deine Stimme immer doppelt so viel zählt.“ Dem Theatermacher hilft dieser Austausch, sein Verhalten und die Struktur im boat people projekt zu ändern.
Die Kinder des Kinderclubs profitieren vom bunten Kostümfundus des Theaters | © boat people projekt e.V.
Diversität auf allen Ebenen
Reimar de la Chevallerie setzt sich mit dem deutschen Kultursystem auseinander, in dem, wer Geld und Macht hat, auch die Themen bestimmen kann. Er findet: „Diversität muss es auch auf Leitungs- und Regieebene geben, sonst ändert sich auch in den Besetzungen nichts.“ Und so versucht das Freie Theater bewusst Regie- und Leitungspositionen mit unterschiedlichen Perspektiven zu besetzen. So wird auch mit verschiedenen Formaten und ästhetischen Formen experimentiert. Zudem wird die eurozentrische Sichtweise auf gesellschaftliche Probleme reflektiert und versucht, das eigene Programm hinsichtlich Themen und Stückauswahl zu dekolonisieren. “Hier in Göttingen haben wir das Glück, etwas unter dem Radar zu sein und auch mal etwas ausprobieren zu können.“
Das boat people projekt ist für ihn und die 50 Kolleg*innen zu einem Ort geworden, an dem sich vieles in Kooperationen und dem gemeinsamen Schaffen ausprobieren lässt. Für die Förderprogramme würde Reimar sich wünschen, dass es für solche Prozesse des Experimentierens mehr Zeit gäbe, um sich zunächst kennenzulernen, um Barrieren zu benennen und abbauen zu können. Dafür müssten die Förderzeiträume für Produktionen verlängert würden.
Reimar de la Chevallerie mit dem geförderten E-Lastenrad vor dem Werkraum
Mit professionellem Equipment durch die Pandemie
Die NEUSTART KULTUR-Mittel haben dem boat people projekt in der Pandemie sehr geholfen. „Wir hätten schon irgendwie auch ohne weiter machen können. Draußen mit zwei improvisierten Lampen vielleicht. Aber durch die Förderung konnten wir eben wirklich professionell weiterarbeiten“, freut sich de la Chevallerie. Neben den Scheinwerfern halfen auch Outdoor-Boxen und ein Outdoor-Mischpult, die Proben und Aufführungen ins Freie zu verlegen. Und das grüne E- Lastenrad samt Fahrradanhänger machte den Transport zu den neuen Veranstaltungsorten um einiges nachhaltiger.
Von der betreuten Google-Suche über gemeinsames Gurkenschnibbeln bis hin zu Yoga auf Englisch und Ukrainisch – das alles ist Soziokultur beim Drop In e.V. Förderreferentin Pia hat den Verein für Jugendarbeit auf dem Berliner RAW-Gelände besucht. Dort hat sie erfahren, was die Mitarbeitenden mit den NEUSTART KULTUR-Mitteln für ein tolles Programm auf die Beine gestellt haben.
Es knirscht unter den Reifen, als ich mit dem Fahrrad über die mit Scherben übersäten Pflastersteine auf dem Berliner RAW-Gelände rolle. Wo nachts überschwänglich miteinander angestoßen wird und dabei ab und zu eine Flasche zu Bruch geht, kann man tagsüber ganz viel Soziokultur und Sport erleben.
Der Drop In e.V., den ich heute besuche, liegt etwas versteckt zwischen der Skatehalle und einem Klangkunstmuseum. Die soziokulturellen Einrichtungen auf dem RAW-Gelände sind in L-Form angesiedelt. Sie werden auch als ‘Soziokulturelles L’ bezeichnet. Viele der kulturellen Mieter*innen auf dem Areal müssen ab 2024 neuen Bebauungsplänen weichen. Das ‘Soziokulturelle L’ konnte glücklicherweise ein Bleiberecht für die nächsten 30 Jahre erwirken.
Willkommen im offenen Jugendtreff
Die Mitarbeiter*innen Jens Lewandowski, Dominik Aurbach und Kristina Werth empfangen mich im liebevoll und bunt gestalteten Innenhof der Räumlichkeiten des Vereins. „Hier, das haben wir alles im Upcycling-Workshop mit den Jugendlichen so toll hergerichtet. Wurde auch von euch, von NEUSTAT KULTUR gefördert“, erklärt Jens und zeigt auf die mit Blumen bepflanzten Paletten vor einer frisch gestrichenen weißen Wand. „Und hier ist dann auch noch Platz für den Graffiti-Workshop, der noch ansteht“.
Diese Wand wurde im von NEUSTART KULTUR geförderten Workshop upgecycelt
© NEUSTART KULTUR
Der Drop In e.V. ist ein offener Jugendtreff. Ab 13 Uhr können Kinder und Jugendliche im Alter von 13 bis 26 Jahre hier vorbeikommen und ihre Freizeit verbringen. Dafür steht ihnen ein Wohnzimmer mit Kicker, Sofa, einem gefüllten Bücherregal und ein Fernseher, auf dem Skate-Tricks gezeigt werden, zur Verfügung. Daneben gibt‘s einen Sportraum mit Boxsack und Yogamatten und unterm Dach einen Arbeits- und Workshopraum mit Kamin. Im Winter kann man hier ganz gemütlich bei Feuerknistern Filme auf der Leinwand schauen. Und natürlich gibt’s nebenan die Skatehalle, mit der der Verein kooperiert und in der die Jugendlichen auch immer willkommen sind.
Im Winter kann das gemütliche Wohnzimmer mit Kicker und Couch hoffentlich weiter genutzt werden
© NEUSTART KULTUR
„Da wir ein offener Treff sind, weiß man nie was passiert“, sagt Jens. Manche Jugendliche wollen einfach den Raum nutzen, andere brauchen Hilfe bei den Hausaufgaben. „Manchmal machen wir dann auch eine betreute Google-Suche, das ist für einige gar nicht so einfach“. Auch beim Vereinbaren von Terminen bei Ärzt*innen leisten die Sozialarbeiter*innen Unterstützung. „Manchmal trauen sich die Jugendlichen wegen ihrer Deutschkenntnisse nicht, selbst dort anzurufen, obwohl das Deutsch meistens schon total gut ist“, bemerkt Dominik. Viele der Besucher*innen des Jugendtreffs haben eine Flucht- oder Migrationsgeschichte und nutzen auch gerne die angebotenen Deutschkurse des Drop In e.V.
Neues Angebot für Jugendliche aus der Ukraine
„Heute, am Mittwoch, ist zum Beispiel Ukraine-Tag“, betont Jens. „Wir haben das Glück, Sveta, eine ukrainische Übersetzerin bei uns zu haben, die selbst auch erst vor Kurzem nach Deutschland gekommen ist. Wir sind zwar vernetzt im Sozialraum, aber dass die neu angekommenen Jugendlichen zu uns finden, ist oft nur über direkte Kontakte möglich. Viele sind ja noch gar nicht angebunden und warten auf Schulplätze.“ Mittwochs bringt Sveta nun oft neue Interessierte mit zum Drop In e.V., hilft ihnen sprachlich und gibt auch Yogakurse auf Englisch und Ukrainisch.
Jugendarbeit in der Pandemie
Die digitalen Angebote des Drop In e.V. während der coronabedingten Einschränkungen wurden leider nicht gut angenommen. Jens erklärt, dass es vor allem daran lag, dass die niedrigschwellige Komponente, die die Jugendarbeit ausmacht „Einfach vorbeikommen und mitmachen“ nicht mehr gegeben war. Außerdem fehle vielen Jugendlichen, von denen einige in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, die Infrastruktur – ein ruhiger Ort und ein PC – um an solchen Angeboten teilzunehmen.
Durch NEUSTART KULTUR hat der Drop In e. V. nun verschiedene mehrwöchige Workshops gefördert bekommen, die den Jugendlichen – zurück im Offline-Jugendtreff vor Ort! – nun den Sommer verschönern sollen: einen Foto- und einen Podcast-Workshop, einen zu Upcycling, zu Graffiti sowie einen Ernährungsworkshop.
Im Innenhof ist Platz für Austausch, Lernen und gemeinsames Essen
© NEUSTART KULTUR
Gesundes Kochen – für Austausch und Spracherwerb
Der Ernährungsworkshop jeden Dienstag kommt richtig gut an. „Kochen ist die einfachste und schönste Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen und Zugang zur Kultur und Gesellschaft zu bekommen“, schwärmt Dominik. „Wir versuchen grundsätzlich alles vegan und vegetarisch zu machen, dann ist alles koscher und halal und wir müssen uns darüber erst einmal nicht auseinandersetzen.“
Im Workshop lernen die Jugendlichen, was gesunde Ernährung ausmacht, was man zusammen kocht, was zusammenpasst, wie man eine Gurke schneidet und warum am Ende noch Salz ans Essen kommt. Krisi berichtet: „Wir sprechen auch über saisonales Essen, also was gibt es jetzt gerade in Deutschland. Da kann man zu Zeit ganz viel mit Erdbeeren und Spargel machen. Und Mülltrennung ist auch immer ein Thema, das gibt es ja nicht überall“.
Der Ernährungsworkshop ergänze sich auch toll mit den Deutschkursen, berichtet Dominik: „Wir erzählen den Lehrkräften, was wir kochen und die können das dann im Unterricht vorab einbauen und Wortfelder üben – auf mehreren Ebenen lernt es sich viel besser“. Aber Interdisziplinarität hin oder her: Das tollste ist natürlich, wenn später dann alle zusammensitzen und essen und merken, wie gut das gesunde Essen schmeckt.
„Wir sind so glücklich, dass jetzt alles so gut läuft“, sagt Jens abschließend. „Das wollen wir und die Teilnehmer jetzt den Sommer über ausnutzen und genießen. Wer weiß was im Winter wieder kommt.“
Die Soziokultur zeigt sich solidarisch mit den Menschen aus der Ukraine. Auch unsere geförderten Akteur*innen engagieren sich. Kitev – Kultur im Turm e.V. ist schon länger in der Geflüchtetenhilfe aktiv und auch mit den Menschen in der Urkaine verbunden. Ein Gastbeitrag von Agnieszka Wnuczak, kitev.
Die immer schon auch internationale Arbeit des kitev-Teams fand mit dem 2014 konzipierten Projekt „Refugees` Kitchen“ intensiv zusammen mit seiner lokalen Arbeit: Als 2015/16 die fahrende Küche gebaut und in Betrieb genommen wurde, geschah dies in Gemeinschaftsarbeit mit in dieser Zeit in Oberhausen ankommenden Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan, Eriträa und vielen anderen Herkunftsländern.
Und als die leider nur kurz vorherrschende Willkommenskultur in Deutschland nicht mehr allgemein geteilt wurde, setzte kitev 2018 ein neues und bis heute vielfarbig leuchtendes Zeichen auf dem Dach des höchsten Hochhauses im Bahnhofsquartier: „VIELFALT ist unsere Heimat“. Diese Schrift- und Licht-Skulptur des kitev-Mitbegründers Christoph Stark, die graphisch exakt den unweit sichtbaren Schriftzug „OBERHAUSEN – Wiege der Ruhrindustrie“ spiegelt, benennt als Motto ein wesentliches Movens und Telos aller kitev-Arbeiten – und zugleich einen historischen Fakt aller Kulturen, Nationen, Gemeinschaften und ganz konkret der Stadt Oberhausen, dessen junge Geschichte am präzisesten als eine von 175 Jahren Immigration zu beschreiben ist.
“VIELFALT ist unsere Heimat” leuchtet es von einem Hochhaus im Oberhausener Bahnhofsquartier
© Kultur im Turm e.V.
LEERSTAND – Ort der Begegnung
Seit Anfang 2021 ist kitev in Kooperation mit der Stadt Oberhausen, ihrem Kommunalen Integrationszentrum und mehreren lokalen Sozialträgern engagiert im NRW-Landesprogramm „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“, welches jungen Geflüchteten mit prekärem Aufenthaltsstatus neue Möglichkeiten eröffnen soll. Kitev bietet hierfür in seinem Projekt „GEmeinsam NEu Aufbauen – GENAU“ diverse kreative Workshops an, die im Resultat gemeinsam den jüngst grundsanierten LEERSTAND in ein final kooperativ mit Neu-Oberhausener*innen betriebenes Café verwandeln sollen. Zugleich sind in diesem Projekt konkrete Hilfsangebote integriert: Verfahrensberatungen zum je individuellen Aufenthaltsstatus, Vermittlungen in Ausbildungen und Arbeit, Angebote zum Spracherwerb.
Der neu sanierte und gemeinsam mit den mitwirkenden Geflüchteten final neu zu erschaffende LEERSTAND wurde inzwischen bereits zu einem rege besuchten offenen Ort der Begegnung, des Austausches, der gelebten Solidarität und – für hieran Interessierte – der Vermittlung in weitere, insbesondere berufsqualifizierende Angebote.
Derzeit firmiert der LEERSTAND zwei Mal die Woche als offener Treff. Einmal wöchentlich wird zu thematischem Austausch eingeladen. An einem Vormittag gehört der Raum nur Frauen. Die Woche beschließt freitags ein Angebot zum gemeinsamen Kochen und Essen, gemäß des Mottos der Refugees` Kitchen: „Zu Hause ist, wo man zusammen isst.“ Es werden hier syrische, tunesische, äthiopische, irakische, iranische … und nun auch ukrainische Gerichte gemeinsam zubereitet und anschließend verspeist. Guten Appetit! Bon appétit! Nauttikaa ateriastanne! Smacznego! صحة وعافية! Приятного аппетита! Смачного!
Kooperation mit ukrainischer Kulturorganistation Kultura Medialna
Auf den Krieg gegen die Ukraine hat kitev umgehend reagiert. Seit 2015 ist kitev mit der Kulturorganisation Kultura Medialna aus Dnipro befreundet. Im Rahmen des Programms „Forum Regionum“ arbeiteten beide 2016 in Oberhausen, 2019 in Dnipro bei der Entwicklung eines neuen Soziokulturellen Zentrums intensiv zusammen.
Die Künstler:innenresidenz in Dnipro war der Startpunkt für den Umbau eines leerstehenden Gebäudes zu einem Kunst- und Kulturzentrum. Dieses erst jüngst erkämpftes, saniertes, kulturell geplantes Soziokulturelle Zentrum DCCC (Dnipro Center for Contemporary Culture) hat sich mit Beginn des offenen Krieges verwandelt. Bis zum 24. Februar 2022 veranstaltete das DCCC Ausstellungen, Festivals, Bildungsprogramme, eigene, städtische und andere Projekte. Jetzt betreibt ein Teil des Teams in Dnipro im DCCC ein soziales, pädagogisches und humanitäres Zentrum für Einheimische und Binnenflüchtlinge. Dort gibt es ein Spielzimmer für Kinder, einen Coworking-Bereich, einen Vortragssaal für Kinder und Jugendliche, eine Bibliothek und Büros von Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten. Weitere Mitglieder des Teams sind im westlichen Grenzbereich der Ukraine aktiv, andere befinden sich bereits im Exil.
Unsere Dialoge mit unseren Freund*innen und Partner*innen ergaben: Ihre nun primär humanitäre Arbeit soll nicht ihre einzige sein. Sie wollen weiterhin auch kulturell, künstlerisch arbeiten, als Teil ihrer Arbeit am Widerstand und für Aufklärung über die aktuelle Situation in der Ukraine.
Gemeinsam mit Kultura Medialna plant kitev daher bereits für Juni 2022 eine von seinen ukrainischen Partner*innen kuratierte Reihe öffentlicher Diskussionen und künstlerischer Präsentationen in Oberhausen.
Selbstorganisierte Verteil- und Sammelstelle für Geflüchtete
Ein anderes aktuelles Engagement für die von Krieg und Vertreibung betroffenen Menschen aus der Ukraine entstand nicht auf eigene Initiative von kitev, sondern durch Paul Ostapenko. Er kam vor zehn Monaten mit seiner Familie aus der Ukraine nach Oberhausen und nahm Kontakt zu kitev und seinem GENAU-Team auf, um sich Unterstützung bei der Suche nach einem Kindergartenplatz für seine Kinder zu holen. Heute sind Paul Ostapenko und seine Frau Katarina selbst große Unterstützer*innen vor Ort. Aufgrund ihrer Initiative wurde im mit kitev verbundenen Nachbarschaftszentrum Unterhaus eine Verteil- und Sammelstelle für Bedarfsgüter für aus der Ukraine geflüchtete Menschen eingerichtet. Zuerst sollten nur ein paar Kleider-Spenden zwischengelagert werden. Aber die großzügigen Spenden stapelten sich schnell bis unter die Decke der Räume. Durch Pauls und Katarinas Initiative und die Hilfe von neuen, nach Oberhausen geflüchteten Ukrainer*innen, gelang es schnell, eine selbstorganisierte Verteilungs- und Sammelstelle sowie einen Treffpunkt mit Kleiderausgabe zu etablieren. Kitev ist von Paul Ostapenkos Tatendrang und Organisationsgeschick begeistert und dankt ihm und seiner Frau Katarina für das Engagement und die Zusammenarbeit!
Weitere Informationen
Spendenaufruf des Dnipro Center for Contemporary Culture
Bei meinem Projektbesuch bei PANDA platforma auf dem Gelände der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg spreche ich mit der Vereinsvorsitzenden Svetlana Müller über das vielfältige künstlerische und politische Programm der Kultureinrichtung und ihr derzeit großes Engagement für die Menschen in und aus der Ukraine.
Svetlana Müller fährt über die Pflastersteine im Hof der Kulturbrauerei ein und parkt ihr Fahrrad vor der PANDA platforma. „Entschuldigung“, ruft sie mir ein bisschen außer Puste entgegen, „Ich hatte noch ein Interview mit einer russischen Schriftstellerin!“ Seit dem 24. Februar ist die Vorstandsvorsitzende des Vereins PANDA platforma e.V. ständig unterwegs. Führt Gespräche, knüpft Kontakte und macht sich für die Unterstützung Geflüchteter aus der Ukraine stark. Sie macht sich große Sorgen: „Seit dem Angriff schlafe ich nicht mehr als vier Stunden am Stück. Wir haben ja auch alle Familie und Freunde dort“. Und dennoch stemmen sie und die circa 20 aktiven Mitglieder des Vereins weiterhin ein starkes Kulturprogramm im PANDA.
Das PANDA, eine Plattform für die alternative Post-Ost-Community
Die PANDA platforma gibt es seit 2009 und bietet vielen verschiedenen Kunstdisziplinen eine Bühne: Theater, Musik, Lesungen, Performance, politische Debatten, Ausstellungen und vieles mehr findet hier statt. Die Veranstaltungen richten sich vor allem an die russischsprachige und Post-Ost-Community. Svetlana betont die Einzigartigkeit der PANDA platforma: „Natürlich gibt es in Berlin viele Anlaufstellen für Menschen aus den ehemaligen Sowjetstaaten, aber eben nicht für uns, für die demokratisch denkenden, alternativen Menschen und Künstler*innen.“
Gespanntes und betroffenes Lauschen bei der Solidaritätsaktion “Poesie für die Ukraine”
© PANDA platforma
Ein Programm von gemütlich bis wild auf dem Areal der Kulturbrauerei
P.A.N.D.A. steht für poetry, art, networking, dreams, activity und der Pandabär, der als Logo für das PANDA dient, ist auch als ein Gegenbild zur russischen Nationalallegorie, des großen, starken Bären gemeint: „Der Panda ist gemütlich und friedlich“, erklärt Svetlana mit einem Augenzwinkern.
Dass die Veranstaltungen im PANDA gemütlich sind, kann man sich gut vorstellen: Der schwarz gehaltene Raum mit kleiner Bühne, Zuschauer*innenbereich und Bar lädt dazu ein, entspannt sitzend, mit 20 anderen Musikliebhaber*innen einem nischigen Jazzkonzert zu lauschen. Aber auch größere Veranstaltungen, wie Lesungen des russischen Schriftsellers Wladimir Sorokin, Diskussionen und Partys mit Wladimir Kaminer oder wilde Konzerte von Rotfrontsänger Jury Gurzhy mit bis zu 120 tanzenden Gästen, sehe ich bildlich vor mir. An den Wänden hängen abstrakte, bunte Gemälde. Svetlana zeigt mir stolz die signierten Barhocker und die Tische, die von einer ukrainischen Künstlerin gestaltetet wurden und wichtige Personen der Szene und des PANDA-Kollektivs abbilden. Künstler*innen und Organisator*innen scheinen hier persönlich miteinander bekannt oder sind einfach beides zugleich.
Das PANDA von innen: Kunst an den Wänden, auf den Tischen und ganz oft auch auf der Bühne
© NEUSTART KULTUR / Bundesverband Soziokultur
Svetlana ist seit vier Jahren im Vorstand des Vereins und betont, was für ein Glück sie mit dem Standort mitten in der beliebten Kulturbrauerei im Berliner Prenzlauer Berg haben, in der das PANDA die einzige Kultureinrichtung ist, die keine regelmäßige staatliche Förderung erhält und die fast ausschließlich ehrenamtlich betrieben wird: „Wir wissen alle, dass wir so einen Ort, mit einer erschwinglichen Miete in Berlin nicht mehr bekommen könnten. Nicht innerhalb des Rings, aber vermutlich auch nicht außerhalb.“
In Solidarität mit der Ukraine und den Geflüchteten
Diesen Ort lebendig zu halten, ist die größte Motivation für Svetlana, insbesondere in Zeiten wie jetzt. Seit dem Angriff auf die Ukraine ist das PANDA-Team rund um die Uhr beschäftigt: „Die erste Woche haben wir uns nicht vorstellen können, Events durchzuführen, aber dann haben wir uns entschieden, unser Programm fortzusetzen und alle Einnahmen an ukrainische Unterstützungsorganisationen zu spenden.“ Regelmäßig finden nun auch mehrsprachige Poesieabende als Solidaritätsaktion statt. „Neulich ist abends eine ukrainische Dichterin aufgetreten, die erst am selben Tag in Berlin angekommen ist. Das sind für alle dann sehr bewegende Momente“, berichtet Svetlana.
Sonntags wird das PANDA zum safe space für Geflüchtete aus der Ukraine
© PANDA platforma
Sonntags haben sie außerdem tagsüber einen safe space für Geflüchtete eingerichtet. Der safe space soll eine Anlaufstelle für die Menschen sein, wo sie sich auf Ukrainisch und Russisch austauschen und das Erlebte verarbeiten können. Hier erhalten sie auch praktische Unterstützung in bürokratischen Angelegenheiten für den neuen Alltag. Es seien auch immer Psycholog*innen anwesend, die in der Muttersprache unterstützen könnten. „Aber es muss auch nicht geredet werden“, betont Svetlana „Die Menschen können auch einfach nur hier sein, zur Ruhe kommen, was essen und trinken.“ Auch mit „Quarteera“, einem Verband von russischsprachigen LGBTQI+-Menschen steht das PANDA in Verbindung und vermittelt so noch einmal gezielt Hilfe für queere Geflüchtete. Für Kinder gibt es Workshop- und Spieleangebote. Svetlana ist es ein großes Anliegen, auch noch für Jugendliche ein Programm anzubieten. Diese würden bei den Angeboten oft einfach durchfallen. Um die Menschen noch besser unterstützen zu können, wünscht sich Svetlana vor allem Zeit und Kapazitäten. Dass das Team trotz fast ausschließlich ehrenamtlicher Tätigkeit drei bis fünf Veranstaltungen pro Woche stemmt, ist wirklich eine beachtliche Leistung.
Mit Streaming erfolgreich durch die Pandemie
Auch in Corona-Zeiten konnte das PANDA diesen Output aufrechterhalten. Kurz bevor es mit dem Lockdown richtig losging hat das PANDA am 13. März 2020 schon das erste Konzert live gestreamt: „Wir waren überhaupt nicht vorbereitet und wussten bis zur letzten Minute nicht, ob es klappt, aber es hat alles wunderbar funktioniert“, freut sich Svetlana. Seitdem streamte das PANDA viele Veranstaltungen und hat dadurch auch viele neue Zuschauer*innen außerhalb Berlins gewonnen. Um im Panda hygienekonform Veranstaltungen durchführen zu können, war eine Lüftungsanlage unbedingt notwendig. Durch die NEUSTART KULTUR Förderung wurde dies ermöglicht.
Für die Zukunft des PANDAs hat Svetlana derzeit keine Wünsche, ihre Wünsche gelten im Moment allein den Menschen in und aus der Ukraine.