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Während der Pandemie wurden für den Hamburger Oberhafen zwei Audioformate entwickelt, um Besuchenden das Kultur- und Kreativquartier trotz Kontaktbeschränkungen zugänglich zu machen. Denn der inspirierende und vielfältige Ort hat nicht nur eine bewegte Geschichte, sondern lebt vom regen Austausch zwischen den Kulturschaffenden und den Besucher*innen. Ulrich Bildstein ist Geschäftsführer des Kammerkunstvereins und im Vorstand des Oberhafen 5+1 e.V. Er hat beide Audioformate mit entwickelt und umgesetzt – NEUSTART KULTUR hat sich mit ihm darüber unterhalten.

Lieber Ulrich, bitte erläutere kurz, wer hinter den Audioformaten steckt

Der Oberhafen 5+1 e.V. ist die Selbstorganisation der Nutzer*innen im Oberhafen Hamburg, dem größten kreativwirtschaftlichen Cluster der Stadt. In alten Hafenschuppen sind rund 50 Projekte ansässig, wie Handwerksbetriebe, Veranstaltungsorte, Künstler*innen und Allmende-Flächen, die für alle Bürger*innen offen stehen, die ihre Stadt mitgestalten möchten. Der Hamburger Kammerkunstverein e.V. ist einer dieser 50 Einrichtungen. Er bietet niedrigschwellige Crossover-Formate zwischen klassischer Kammermusik und Text an und agiert dabei stets abseits des subventionierten Klassikbetriebs. Die Kooperation zwischen Oberhafen 5+1 e.V. und dem Kammerkunstverein e.V. war deshalb besonders fruchtbar, weil sich hier unterschiedliche Expertisen ergänzt haben.


Ulrich Bildstein ist im Vorstand des Oberhafen 5+1 e.V. und hat beide Audioformate mit entwickelt. © kammerkunst.de

Zu welchem Zweck wurden die Audioformate entwickelt und worin unterscheiden sie sich?

Um den Oberhafen als öffentlichen Ort zu prägen und allen Besucher*innen Gelegenheit zum Mitmachen zu geben, schaffen die Nutzer*innen des Oberhafens vielfältige Möglichkeiten der Teilhabe. Es gibt öffentliche AGs und Angebote wie z.B. den Gemeinschaftsgarten, Kunstprojekte oder Sport- und Kreativkurse. Wir wollten während des Lockdowns diese Offenheit und Zugänglichkeit beibehalten und weiter entwickeln. Die Audioformate, die durch NEUSTART KULTUR realisiert werden konnten, tragen auf neue Weise dazu bei, Besucher*innen den Ort transparent zu machen und zur Partizipation einzuladen. Besucher*innen können per Audio-Track hinter die Kulissen schauen und einzelnen Betrieben einen Besuch abstatten, sich über die Geschichte des Ortes informieren, mehr über die stadtpolitischen Ziele erfahren und durch künstlerische Beiträge den Ort neu erleben. Es gibt zum Einen den Audio-Guide mit allgemeinen Informationen zum Ort und seinen vielen Projekten und zum Anderen einen Audio-Walk mit eher künstlerischen Beiträge zur Kolonial-Geschichte des Ortes, Klangkollagen und Hafenkonzerte, die zu assoziativem Hören einladen. Beide Projekte ergänzen sich und öffnen vielfältige Zugänge zum Oberhafen.


Auch ein Gemeinschaftsgarten gehört zu den Projekten des Hamburger Oberhafens.
© Oberhafen Hamburg

Wer war an der Realisierung beteiligt und wie können sie genutzt werden?

Die einzelnen Audiostationen wurden in Zusammenarbeit mit Nutzer*innen vor Ort, Zeitzeug*innen, Historiker*innen, Musiker*innen, aber auch Interviewpartner*innen der beteiligten städtischen Entwicklungsgesellschaften realisiert. Die entstanden Hörstücke sind von ganz kurz bis halbstündig und ermöglichen ein detailreiches Eintauchen in die Welt des Oberhafens. Die Audio-Formate werden am Eingang des Geländes per QR-Code und Website angeboten und Besucher*innen benötigten nichts weiter als ein Smartphone. Sie erkunden das Gelände dann Station für Station, bestimmen selbst ihr Tempo und welche Themen sie besonders interessieren.

Was schätzt du an diesen Formaten besonders?

Das Medium kann von jeder Person ganz leicht genutzt werden, denn ein Smartphone haben die meisten immer bei sich. Es verbindet Menschen mit Orten, regt zum Nachdenken an, schafft neue Kollaborationen und ist in seiner Vielstimmigkeit ein Beitrag zu einer lebendigen Zivilgesellschaft.

“Lebenslanges Lernen – Musik ohne Grenzen” so heißt ein Projekt der Berliner Symphoniker und des Otto Dibelius Wohnstifts in Berlin. In Kursen und Workshops erarbeiteten Senior*innen Texte zu selbstgewählten Themen und verknüpften diese mit klassischer Musik. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit persönlichen Lebenserfahrungen und gesellschaftsrelevanten Fragen.

Musik ohne Grenzen nennt sich das Education-Programm der Berliner Symphoniker. Mit diesem generationenübergreifenden Projekt möchten die Symphoniker*innen Menschen jeden Alters erreichen, sie mit ihrer musikalischen Arbeit vertraut machen und für klassische Musik begeistern. Das Kammermusikensemble geht in Kitas, Schulen, Bildungseinrichtungen und Wohnheime, um mit niedrigschwelligen Angeboten Teilhabe zu ermöglichen. Im Rahmen dieses Programms haben sie das Projekt Lebenslanges Lernen auf die Beine gestellt und mit Hilfe der NEUSTART KULTUR Förderung umgesetzt.  Rund 30 Bewohner*innen des Otto Dibelius Wohnstifts für altersgerechtes betreutes Wohnen haben gemeinsam mit den Berliner Symphoniker*innen in insgesamt 16 Workshops Ideen entwickelt, Themen, Texte und Musik erarbeitet und die Ergebnisse anschließend einem öffentlichen Publikum präsentiert.

Themenfindung und Workshops

16 Workshops mit 30 Teilnehmenden – was wie eine große Herausforderung klingt, entwickelte durch die gut angelegte Struktur der Workshops schnell eine produktive Dynamik. Zum Einstieg sammelten die Teilnehmenden zunächst Themen. „Beim ersten Treffen gab es sieben oder acht Themenvorschläge. Wir haben uns zusammengesetzt, um darüber zu sprechen. Es gab Vorschläge wie ‘Corona‘ oder ‘Krieg in der Ukraine’, was wir nicht wollten. Wir wollten etwas Schönes. Toleranz war ein Thema, was allen zusagte, ebenso Glück und Reisen. Mit den weiteren Workshops ist viel in Fluss gekommen“, berichtet Teilnehmerin Karin Bellack.

Nachdem schließlich vier Themen erarbeitet waren, konnten die vertieften Workshops beginnen. Dabei hatte jedes Thema wiederum einen Zeitrahmen von vier Workshops. Die Bewohner*innen setzten sich daran, ihre eigenen Erzählungen und Geschichten zu erfassen und in Texten festzuhalten. Dabei brachten sie ihre persönlichen Erfahrungen, Lebensentwürfe und Gedanken ein. Anschließend wurde gemeinsam mit den Symphoniker*innen die passende Musik zu den Texten besprochen – eine spannende und komplexe Aufgabe, die die Musiker*innen teilweise bis in die späten Abendstunden beschäftige, wie Projektleiterin Henrike Wassermeyer weiß.

Nach jedem abgeschlossenen Themenblock wurden Texte und Musik zunächst in hausinternen Aufführungen den anderen Bewohner*innen präsentiert. Dabei standen die Senior*innen teilweise zum ersten Mal selbst im Scheinwerferlicht: „Ich war sehr neugierig, was passiert. Ich habe mich mit einem Thema intensiv beschäftigt, habe mich getraut auf die Bühne zu gehen und meinen eigenen Text vorzutragen“, so Teilnehmerin Eva Mantel. Für sie und die restlichen Beteiligten dienten die vier internen Aufführungen gleichzeitig als Generalprobe für den großen Projektabschluss.

Ergänzende Kurse zu klassischer Musik

Begleitend zu den Workshops nahmen die Bewohner*innen an Kursen zu Musikeinführung und Musiktheorie teil. Hier wurden einzelne Stücke und Konzertprogramme besprochen, Musikinstrumente erklärt, Spieltechniken erläutert und das Leben und Schaffen von Komponist*innen vorgestellt. So konnten die Teilnehmenden ein besseres Gefühl für die Musikauswahl entfalten und außerdem Spaß an klassischer Musik entwickeln oder vertiefen. Die Kurse stießen auf große Begeisterung unter den Bewohner*innen des Otto Dibelius Stifts. Karin Bellack schwärmt: „Ich bin sehr unmusikalisch, kann keine Noten lesen. Aber ich habe hier so viel gelernt über Musikinstrumente, über Komponisten. Die Zusammenarbeit mit den Musiker*innen war sehr herzlich und zugewandt“.

Die Kombination aus Kursen und Workshops machte das Projekt zu einem echten Erlebnis für alle Beteiligten. Die intensive Beschäftigung mit Texten und Musik und der Austausch miteinander beeindruckte auch die Musiker*innen. Es sei bei weitem das Beste gewesen, was er an Workshops erlebt hat, so Violinist Edgar Petri. „Wir waren alle gefragt, daran mitzuarbeiten. Der Kontakt, die Ideen konnten nur wachsen, weil es viel Zeit miteinander gab.” Musiker Philippe Perotto, der das Projekt mit konzipiert hat, betonte zudem, dass in den Workshops alles auf Augenhöhe geschieht. Die Grundidee des Projekts sei eine echte Zusammenarbeit zwischen Teilnehmenden und Musiker*innen.

Darüber hinaus sahen Teilnehmende im Projekt eine wertvolle Gelegenheit, andere Bewohner*innen neu und besser kennenzulernen. Die intensive Beschäftigung miteinander hat die Teilnehmenden näher zusammengebracht und das Gruppengefühl gestärkt.

Die Senior*innen standen teilweise zum ersten Mal selbst im Rampenlicht

Großes Abschlusskonzert im Festsaal

Nach den hausinternen Aufführungen war es dann so weit: Eine Auswahl an Texten wurde getroffen und von den Bewohner*innen bei einem großen, öffentlichen Abschlusskonzert im Festsaal des Otto Dibelius Stifts präsentiert: die Themen Glück, Reisen, Toleranz sowie Mensch und Natur kamen auf die Bühne des gut gefüllten Festsaals – und dieses Mal sogar mit größerer musikalischer Besetzung.
In vier musikalischen Lesungen erzählten die Teilnehmenden von Erinnerungen aus ihrer Kindheit, von Lieblingsorten und -landschaften, Herausforderungen, Lebensreisen, Spuren der Vergangenheit und Formen des Erinnerns. Begleitet vom Kammermusikensemble und den Klängen von Händel und Mozart gestalteten die Senior*innen einen berührenden Abend – gefühlvoll, persönlich und eindrücklich.

Zum großen Abschlusskonzert füllte sich der Festsaal des Otto Dibelius Wohnstifts

Spätestens nach der gelungenen Abschlussaufführung waren sich alle Beteiligten einig: das Beschäftigen mit klassischer Musik, das Auseinandersetzen mit der eigenen Geschichte, die Herausforderung der Präsentationen und der Austausch untereinander wurden als großer Gewinn und Bereicherung empfunden. Alle – Initiator*innen, Bewohner*innen und Musiker*innen – möchten das Projekt unbedingt weiterführen.