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“Lebenslanges Lernen – Musik ohne Grenzen” so heißt ein Projekt der Berliner Symphoniker und des Otto Dibelius Wohnstifts in Berlin. In Kursen und Workshops erarbeiteten Senior*innen Texte zu selbstgewählten Themen und verknüpften diese mit klassischer Musik. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit persönlichen Lebenserfahrungen und gesellschaftsrelevanten Fragen.

Musik ohne Grenzen nennt sich das Education-Programm der Berliner Symphoniker. Mit diesem generationenübergreifenden Projekt möchten die Symphoniker*innen Menschen jeden Alters erreichen, sie mit ihrer musikalischen Arbeit vertraut machen und für klassische Musik begeistern. Das Kammermusikensemble geht in Kitas, Schulen, Bildungseinrichtungen und Wohnheime, um mit niedrigschwelligen Angeboten Teilhabe zu ermöglichen. Im Rahmen dieses Programms haben sie das Projekt Lebenslanges Lernen auf die Beine gestellt und mit Hilfe der NEUSTART KULTUR Förderung umgesetzt.  Rund 30 Bewohner*innen des Otto Dibelius Wohnstifts für altersgerechtes betreutes Wohnen haben gemeinsam mit den Berliner Symphoniker*innen in insgesamt 16 Workshops Ideen entwickelt, Themen, Texte und Musik erarbeitet und die Ergebnisse anschließend einem öffentlichen Publikum präsentiert.

Themenfindung und Workshops

16 Workshops mit 30 Teilnehmenden – was wie eine große Herausforderung klingt, entwickelte durch die gut angelegte Struktur der Workshops schnell eine produktive Dynamik. Zum Einstieg sammelten die Teilnehmenden zunächst Themen. „Beim ersten Treffen gab es sieben oder acht Themenvorschläge. Wir haben uns zusammengesetzt, um darüber zu sprechen. Es gab Vorschläge wie ‘Corona‘ oder ‘Krieg in der Ukraine’, was wir nicht wollten. Wir wollten etwas Schönes. Toleranz war ein Thema, was allen zusagte, ebenso Glück und Reisen. Mit den weiteren Workshops ist viel in Fluss gekommen“, berichtet Teilnehmerin Karin Bellack.

Nachdem schließlich vier Themen erarbeitet waren, konnten die vertieften Workshops beginnen. Dabei hatte jedes Thema wiederum einen Zeitrahmen von vier Workshops. Die Bewohner*innen setzten sich daran, ihre eigenen Erzählungen und Geschichten zu erfassen und in Texten festzuhalten. Dabei brachten sie ihre persönlichen Erfahrungen, Lebensentwürfe und Gedanken ein. Anschließend wurde gemeinsam mit den Symphoniker*innen die passende Musik zu den Texten besprochen – eine spannende und komplexe Aufgabe, die die Musiker*innen teilweise bis in die späten Abendstunden beschäftige, wie Projektleiterin Henrike Wassermeyer weiß.

Nach jedem abgeschlossenen Themenblock wurden Texte und Musik zunächst in hausinternen Aufführungen den anderen Bewohner*innen präsentiert. Dabei standen die Senior*innen teilweise zum ersten Mal selbst im Scheinwerferlicht: „Ich war sehr neugierig, was passiert. Ich habe mich mit einem Thema intensiv beschäftigt, habe mich getraut auf die Bühne zu gehen und meinen eigenen Text vorzutragen“, so Teilnehmerin Eva Mantel. Für sie und die restlichen Beteiligten dienten die vier internen Aufführungen gleichzeitig als Generalprobe für den großen Projektabschluss.

Ergänzende Kurse zu klassischer Musik

Begleitend zu den Workshops nahmen die Bewohner*innen an Kursen zu Musikeinführung und Musiktheorie teil. Hier wurden einzelne Stücke und Konzertprogramme besprochen, Musikinstrumente erklärt, Spieltechniken erläutert und das Leben und Schaffen von Komponist*innen vorgestellt. So konnten die Teilnehmenden ein besseres Gefühl für die Musikauswahl entfalten und außerdem Spaß an klassischer Musik entwickeln oder vertiefen. Die Kurse stießen auf große Begeisterung unter den Bewohner*innen des Otto Dibelius Stifts. Karin Bellack schwärmt: „Ich bin sehr unmusikalisch, kann keine Noten lesen. Aber ich habe hier so viel gelernt über Musikinstrumente, über Komponisten. Die Zusammenarbeit mit den Musiker*innen war sehr herzlich und zugewandt“.

Die Kombination aus Kursen und Workshops machte das Projekt zu einem echten Erlebnis für alle Beteiligten. Die intensive Beschäftigung mit Texten und Musik und der Austausch miteinander beeindruckte auch die Musiker*innen. Es sei bei weitem das Beste gewesen, was er an Workshops erlebt hat, so Violinist Edgar Petri. „Wir waren alle gefragt, daran mitzuarbeiten. Der Kontakt, die Ideen konnten nur wachsen, weil es viel Zeit miteinander gab.” Musiker Philippe Perotto, der das Projekt mit konzipiert hat, betonte zudem, dass in den Workshops alles auf Augenhöhe geschieht. Die Grundidee des Projekts sei eine echte Zusammenarbeit zwischen Teilnehmenden und Musiker*innen.

Darüber hinaus sahen Teilnehmende im Projekt eine wertvolle Gelegenheit, andere Bewohner*innen neu und besser kennenzulernen. Die intensive Beschäftigung miteinander hat die Teilnehmenden näher zusammengebracht und das Gruppengefühl gestärkt.

Die Senior*innen standen teilweise zum ersten Mal selbst im Rampenlicht

Großes Abschlusskonzert im Festsaal

Nach den hausinternen Aufführungen war es dann so weit: Eine Auswahl an Texten wurde getroffen und von den Bewohner*innen bei einem großen, öffentlichen Abschlusskonzert im Festsaal des Otto Dibelius Stifts präsentiert: die Themen Glück, Reisen, Toleranz sowie Mensch und Natur kamen auf die Bühne des gut gefüllten Festsaals – und dieses Mal sogar mit größerer musikalischer Besetzung.
In vier musikalischen Lesungen erzählten die Teilnehmenden von Erinnerungen aus ihrer Kindheit, von Lieblingsorten und -landschaften, Herausforderungen, Lebensreisen, Spuren der Vergangenheit und Formen des Erinnerns. Begleitet vom Kammermusikensemble und den Klängen von Händel und Mozart gestalteten die Senior*innen einen berührenden Abend – gefühlvoll, persönlich und eindrücklich.

Zum großen Abschlusskonzert füllte sich der Festsaal des Otto Dibelius Wohnstifts

Spätestens nach der gelungenen Abschlussaufführung waren sich alle Beteiligten einig: das Beschäftigen mit klassischer Musik, das Auseinandersetzen mit der eigenen Geschichte, die Herausforderung der Präsentationen und der Austausch untereinander wurden als großer Gewinn und Bereicherung empfunden. Alle – Initiator*innen, Bewohner*innen und Musiker*innen – möchten das Projekt unbedingt weiterführen.

Nur zu Fuß erreichbar, uralt und nun wiederentdeckt. Das ist der Waldschlucht Baustellenkiosk in Bad Kohlgrub, einem kleinen oberbayerischen Dorf im Kreis Garmisch-Partenkirchen. Karola Woll macht sich auf den Fußweg, um mehr darüber zu erfahren, wie diese städtische Idee für ein Kulturzentrum auf dem Land unter Beteiligung der Anwohner*innen umgesetzt wird.

Mein Weg beginnt am Parkplatz des Sportplatzes in Bad Kohlgrub. Von hier aus geht es nicht mehr mit dem Auto weiter, sondern, wie für alle Besucher*innen des Waldschlucht Baustellenkiosks, zu Fuß. Eine Schiefertafel weist mir den Weg, der mich über einen unasphaltierten Waldweg in den Wald führt. Die Sonne ist schon fast untergegangen und die Strecke zum Baustellenkiosk ist dunkel und unbeleuchtet. Später lerne ich, dass es dafür einen sehr guten Grund gibt: die Tiere und das Leben im Wald sollen nicht durch Beleuchtung gestört werden. Dieser Respekt vor der Natur und der Einbezug der lokalen Bevölkerung sind bezeichnend für das Konzept des Waldschlucht Baustellenkiosks, das folgendem Prinzip folgt: Die Idee, die in einer Stadt, nämlich in München, geboren wurde, soll in Einklang mit dem stehen, was auf dem Land schon lange vor der Idee vorhanden war – nämlich den Bewohner*innen und natürlich der Natur.

Rosi war vor rund hundert Jahren die gute Seele des damaligen Waldcafés

Rosi von früher

Nach einem zehnminütigen Fußmarsch durch den dunklen Wald mit beruhigender Soundkulisse sehe ich Licht. Vorbei an einem kleinen Naturpool empfangen mich kleine Büdchen und Zelte, liebevoll hergerichtet aus gebrauchten Materialien und mit Sitzmöbeln bespickt. Auf der kleinen Bühne spielt eine Band Hard Rock. An der Theke des Verpflegungsbüdchens, das für seine leckeren hausgemachten Pommes bekannt ist, entdecke ich das Bild einer alten, herzlich aussehenden Dame. Sie serviert lächelnd Kaffee und Kuchen und strahlt Wärme und Geselligkeit aus.  „Das ist Rosi. Sie war die gute Seele des Waldcafés“, meint Charlotte Höltzig, die den Waldschlucht Baustellenkiosk leitet und mir alle interessanten Dinge zur Entstehung und zum Betrieb der Kulturstätte erzählt.

Denn an diesem faszinierenden Ort in den Bergen, umgeben von Grün, Idyll und Ruhe, gab es schon in den 1920er Jahren ein Café mit Waldbühne. Es war, wie heute wieder, ein beliebtes Ausflugsziel im Ammertal. Bereits damals lockten Theater, Musik, Freibad, Kuchen und Zusammenkommen die Bewohner*innen aus den umliegenden Dörfern an. Lange Zeit lag dieser Ort der Geselligkeit brach, bis die Brüder Julian und Daniel Hahn ihn wiederentdeckten. Die beiden Geschäftsführer etablierten bereits in München mit viel Kreativität, Mut und vor allem Erfolg die Kulturbetriebe Gans woanders, Gans am Wasser, Café Lozzi und die Alte Utting. Mit dem Reiz, dass hier viel mehr Platz vorhanden ist als in der Stadt, verfolgen Julian, Daniel sowie Charlotte die Vision, auf dem Land eine Kulturstätte mit Einflüssen zu bieten, die ein bisschen anders sind.

Hier können sich Besucher*innen von einem Waldspaziergang ausruhen, plaudern oder ein Konzert besuchen | © Nina Vogl

Bayerische Weltmusik und Kunsthandwerk von heute

Und diese etwas anderen Einflüsse findet man unter anderem im Musikprogramm: von Skandinavischen Klängen, Latin-Pop, Salsa, Electronic Music, Lo-fi, über Bayerisch Italo-Folk, Experimental Indie Folk, Bayerisch Blues, Global Beats, bis Rock, Pop und Punk. Alles dargeboten von Musiker*innen und Bands aus der Region, die teilweise schon 20 oder 30 Jahre existieren. So ist die Verbindung zum bereits Vorhandenen hergestellt. Und diese ist außerordentlich harmonisch. Charlotte erzählt mir, dass die Beziehungen zu den Bands sehr persönlich sind und auch mit anderen Kultureinrichtungen enge Kollaborationen bestehen, wie beispielsweise mit dem Forum Westtorhalle e. V. aus dem naheliegenden Murnau.

Neben dem musikalischen Bühnenprogramm finden unter der Rubrik „Waldzeit“ Workshops in Landart, Linoldruck oder Basteln und gemeinschaftliche körperliche Aktivitäten statt. Schon die ganz Kleinen werden in einem Kinderprogramm mit Basteln, Schminken, Naturmaterialien und Upcycling an Kultur und Natur herangeführt. Die Workshopleiter*innen sind natürlich ebenfalls aus der Region, einem Landstrich, in dem Kunsthandwerk überall sichtbar ist und gelebt wird, zum Beispiel in der Bildhauerei. Daher sind Kunst und Kultur hier fest im alltäglichen Tun integriert und eingebunden.

Die Kulturstätte arbeitet in Respekt mit Natur und Umgebung

Alles ist miteinander verbunden – Zusammenhalt

Im Großen wie im Kleinen unterstützen die Bad Kohlgruber*innen den Waldschlucht Baustellenkiosk, wie auch der Bürgermeister, der genau wie viele Anwohner*innen zur Eröffnung im Sommer 2021 kam. Zehn Bad Kohlgruber*innen halfen sogar, den schweren Werkzeugträger, der normalerweise von einem Auto gezogen werden muss, vom Gelände zu schieben, damit die Feier noch gemütlicher werden konnte. Hier kennt man sich untereinander und trifft sich zum Austausch, Beisammensein und um unterschiedliche Sichtweisen auszudiskutieren. Der Waldschlucht Baustellenkiosk scheint dafür der ideale Ort zu sein: Er versammelt viele verschiedene Leute um sich und fördert Gemeinschaft und Zusammenhalt. Es herrscht eine aufgeschlossene, ruhige und tolerante Atmosphäre.

Und ich glaube, Rosi würde das heutige Programm und das Konzept ihrer einstigen Wirkungsstätte sehr gefallen. Eine Idee aus der Stadt, gepaart mit Respekt vor der Natur und Einbeziehung vorhandener ländlicher Strukturen, haben den Waldschlucht Baustellenkiosk zu einer prosperierenden Stätte für kulturelle Teilhabe gemacht.