Nur zu Fuß erreichbar, uralt und nun wiederentdeckt. Das ist der Waldschlucht Baustellenkiosk in Bad Kohlgrub, einem kleinen oberbayerischen Dorf im Kreis Garmisch-Partenkirchen. Karola Woll macht sich auf den Fußweg, um mehr darüber zu erfahren, wie diese städtische Idee für ein Kulturzentrum auf dem Land unter Beteiligung der Anwohner*innen umgesetzt wird.
Mein Weg beginnt am Parkplatz des Sportplatzes in Bad Kohlgrub. Von hier aus geht es nicht mehr mit dem Auto weiter, sondern, wie für alle Besucher*innen des Waldschlucht Baustellenkiosks, zu Fuß. Eine Schiefertafel weist mir den Weg, der mich über einen unasphaltierten Waldweg in den Wald führt. Die Sonne ist schon fast untergegangen und die Strecke zum Baustellenkiosk ist dunkel und unbeleuchtet. Später lerne ich, dass es dafür einen sehr guten Grund gibt: die Tiere und das Leben im Wald sollen nicht durch Beleuchtung gestört werden. Dieser Respekt vor der Natur und der Einbezug der lokalen Bevölkerung sind bezeichnend für das Konzept des Waldschlucht Baustellenkiosks, das folgendem Prinzip folgt: Die Idee, die in einer Stadt, nämlich in München, geboren wurde, soll in Einklang mit dem stehen, was auf dem Land schon lange vor der Idee vorhanden war – nämlich den Bewohner*innen und natürlich der Natur.
Rosi von früher
Nach einem zehnminütigen Fußmarsch durch den dunklen Wald mit beruhigender Soundkulisse sehe ich Licht. Vorbei an einem kleinen Naturpool empfangen mich kleine Büdchen und Zelte, liebevoll hergerichtet aus gebrauchten Materialien und mit Sitzmöbeln bespickt. Auf der kleinen Bühne spielt eine Band Hard Rock. An der Theke des Verpflegungsbüdchens, das für seine leckeren hausgemachten Pommes bekannt ist, entdecke ich das Bild einer alten, herzlich aussehenden Dame. Sie serviert lächelnd Kaffee und Kuchen und strahlt Wärme und Geselligkeit aus. „Das ist Rosi. Sie war die gute Seele des Waldcafés“, meint Charlotte Höltzig, die den Waldschlucht Baustellenkiosk leitet und mir alle interessanten Dinge zur Entstehung und zum Betrieb der Kulturstätte erzählt.
Denn an diesem faszinierenden Ort in den Bergen, umgeben von Grün, Idyll und Ruhe, gab es schon in den 1920er Jahren ein Café mit Waldbühne. Es war, wie heute wieder, ein beliebtes Ausflugsziel im Ammertal. Bereits damals lockten Theater, Musik, Freibad, Kuchen und Zusammenkommen die Bewohner*innen aus den umliegenden Dörfern an. Lange Zeit lag dieser Ort der Geselligkeit brach, bis die Brüder Julian und Daniel Hahn ihn wiederentdeckten. Die beiden Geschäftsführer etablierten bereits in München mit viel Kreativität, Mut und vor allem Erfolg die Kulturbetriebe Gans woanders, Gans am Wasser, Café Lozzi und die Alte Utting. Mit dem Reiz, dass hier viel mehr Platz vorhanden ist als in der Stadt, verfolgen Julian, Daniel sowie Charlotte die Vision, auf dem Land eine Kulturstätte mit Einflüssen zu bieten, die ein bisschen anders sind.
Bayerische Weltmusik und Kunsthandwerk von heute
Und diese etwas anderen Einflüsse findet man unter anderem im Musikprogramm: von Skandinavischen Klängen, Latin-Pop, Salsa, Electronic Music, Lo-fi, über Bayerisch Italo-Folk, Experimental Indie Folk, Bayerisch Blues, Global Beats, bis Rock, Pop und Punk. Alles dargeboten von Musiker*innen und Bands aus der Region, die teilweise schon 20 oder 30 Jahre existieren. So ist die Verbindung zum bereits Vorhandenen hergestellt. Und diese ist außerordentlich harmonisch. Charlotte erzählt mir, dass die Beziehungen zu den Bands sehr persönlich sind und auch mit anderen Kultureinrichtungen enge Kollaborationen bestehen, wie beispielsweise mit dem Forum Westtorhalle e. V. aus dem naheliegenden Murnau.
Neben dem musikalischen Bühnenprogramm finden unter der Rubrik „Waldzeit“ Workshops in Landart, Linoldruck oder Basteln und gemeinschaftliche körperliche Aktivitäten statt. Schon die ganz Kleinen werden in einem Kinderprogramm mit Basteln, Schminken, Naturmaterialien und Upcycling an Kultur und Natur herangeführt. Die Workshopleiter*innen sind natürlich ebenfalls aus der Region, einem Landstrich, in dem Kunsthandwerk überall sichtbar ist und gelebt wird, zum Beispiel in der Bildhauerei. Daher sind Kunst und Kultur hier fest im alltäglichen Tun integriert und eingebunden.
Alles ist miteinander verbunden – Zusammenhalt
Im Großen wie im Kleinen unterstützen die Bad Kohlgruber*innen den Waldschlucht Baustellenkiosk, wie auch der Bürgermeister, der genau wie viele Anwohner*innen zur Eröffnung im Sommer 2021 kam. Zehn Bad Kohlgruber*innen halfen sogar, den schweren Werkzeugträger, der normalerweise von einem Auto gezogen werden muss, vom Gelände zu schieben, damit die Feier noch gemütlicher werden konnte. Hier kennt man sich untereinander und trifft sich zum Austausch, Beisammensein und um unterschiedliche Sichtweisen auszudiskutieren. Der Waldschlucht Baustellenkiosk scheint dafür der ideale Ort zu sein: Er versammelt viele verschiedene Leute um sich und fördert Gemeinschaft und Zusammenhalt. Es herrscht eine aufgeschlossene, ruhige und tolerante Atmosphäre.
Und ich glaube, Rosi würde das heutige Programm und das Konzept ihrer einstigen Wirkungsstätte sehr gefallen. Eine Idee aus der Stadt, gepaart mit Respekt vor der Natur und Einbeziehung vorhandener ländlicher Strukturen, haben den Waldschlucht Baustellenkiosk zu einer prosperierenden Stätte für kulturelle Teilhabe gemacht.
Im ehemaligen Bahnhofsgebäude von Leisnig entsteht nach den Plänen von vier jungen Musiker*innen ein Ort des kulturellen Austauschs und der Begegnung, der Musik und Kreativität. Ein Beitrag über die Wiederbelebung von Kultur und deren konnektiver Funktion in strukturschwachen Regionen. Förderreferent Felix Künzel war vor Ort und hat sich umgesehen.
Malerisch liegt der Bahnhof von Leisnig eingebettet im Tal der Freiberger Mulde. Eine einzelne Dame wartet auf den baldigen Regionalzug nach Leipzig, während die untergehende Sonne den Bahnhof und die Burg Mildenstein in ein gemütliches Licht tauchen und aus dem Bahnhofsgarten beschwingte Jazzmelodien zu hören sind. Das Bahnhofsgebäude selbst, ein repräsentativer neuklassizistischer Bau, hat den Zenit seiner Bedeutsamkeit seit etlichen Jahren überschritten und wurde weitgehend dem Verfall preisgegeben. Doch dies soll nicht so bleiben. Eine Reinkarnation soll das Bahnhofsgebäude von Leisnig erfahren, jedoch nicht als Verkehrsknotenpunkt in Mittelsachsen, sondern vielmehr als Kulturbahnhof. Und die manchmal melancholischen, meist munteren Melodien der jungen Jazz- und Folkmusiker*innen an diesem Abend sind bereits ein deutliches Signal dafür.
Alireza Rismanchian ist einer der vier jungen Menschen, die sich dieses Projekt vorgenommen haben. Er selbst ist Architekt und, ebenso wie seine Partner*innen, Musiker. Über die Musik haben die Gründer*innen zusammengefunden und einen Ort für Musik wollten sie schaffen. Zunächst sollte es ein Dreiseitenhof werden, die anfängliche Skepsis gegenüber einem alten Bahnhofsgebäude wurde jedoch beim ersten Besuch in Leisnig schnell zu Gunsten der Visionen und Ideen an diesem Ort ausgeräumt. „Eine perfekte Schnittstelle zwischen unserem internationalen Netzwerk und der Stadt“ nennt Alireza Rismanchian den Kulturbahnhof. Man sei symbolisch wie auch tatsächlich die Haltestelle in der Stadt, ein neutraler und offener Ort der Begegnung.
Der Kulturbahnhof von innen – im Hintergrund die Gleise
Konzerte statt Warten auf den nächsten Zug
An diesem lauen Sommerabend sind es knapp zwei Dutzend jugendliche Musiker*innen des Jugend Jazzorchesters Sachsen und des Fiddle Gateway Camps, die in entspannter Atmosphäre auf der erst kürzlich fertiggestellten und von NEUSTART KULTUR geförderten Open-Air-Bühne inklusive zugehöriger Technik ihre Kunst zum Besten geben. Direkt neben dem Garten werden aus einer gemütlichen, im Bahnhofsgebäude eingerichteten Bar kühle Getränke serviert. Ein Foodtruck sorgt für kulinarische Verpflegung, untermalt von Jazz Standards und schwedischen Folk Melodien der sich ständig abwechselnden Musiker*innen.
Junge Musiker*innen gestalten das Programm beim Musiksommer am Kulturbahnhof
Der Ertüchtigung des Open-Air-Bereichs soll der Ausbau des Bahnhofsgebäudes folgen. Bislang finden Konzerte in der ehemaligen Wartehalle statt. Durch einen Wanddurchbruch soll ein großer Konzertsaal entstehen, auch mit Hilfe der Förderung von NEUSTART KULTUR. Ein weiterer Zugang sorgt für eine pandemiegerechte Wegführung und Dachfenster ermöglichen eine Frischluftzufuhr und somit einen regelmäßigen Luftaustausch. Dass Alireza Rismanchian eigentlich Architekt ist, merkt man beim Zwiegespräch über die Pläne vor Ort schnell. Fachkundig erläutert er die Visionen, vor Ort Altes mit Modernem zu kombinieren, anschaulich verdeutlicht durch architektonische Entwurfszeichnungen.
Kultur kehrt in strukturschwache Regionen zurück und der Kulturbahnhof in Leisnig ist längst kein Einzelfall. Während der Führung durch das Bahnhofsgebäude treffen wir auf dem Bahnsteig einen weiteren Kulturschaffenden aus Leisnig. Mirko Joerg Kellner vom Forte Belvedere bietet den geneigten Zuschauer*innen Konzerte in besonderem Ambiente auf dem Burgberg, am Leisniger Belvedere. Eine Konkurrenz zum Kulturbahnhof? Mitnichten. „Wir ergänzen uns. Wir machen die Stadt glücklich mit Kultur”, sagt Mirko Joerg Kellner. „Auf einmal wissen die Leute, wo sie hingehen sollen“, fügt Alireza Rismanchian hinzu. Bevor beide Kultureinrichtungen unabhängig voneinander quasi zeitgleich ihre Pforten öffneten, habe es in Leisnig nichts dergleichen gegeben. Vielmehr schien die Stadt ein Paradebeispiel strukturschwacher Regionen, die Lokalpresse berichtete mehrfach vom Abwandern von Betrieben und Gastronomie. Laut Mirko Joerg Kellner sei irgendwann ein Wendepunkt erreicht gewesen.
Das bunte Programm des Musiksommers hat viele Interessierte angelockt
Ein offener Treffpunkt entsteht
Zu diesem habe mit großer Sicherheit auch die günstige Lage Leisnigs, fast mittig zwischen Leipzig und Dresden, beigetragen. Doch nicht nur überregional sei die Anziehungskraft der neuen Leisniger Kulturarbeit zu spüren. „Wir haben uns vorgenommen, von Anfang an integriert zu werden in die Stadt“, verdeutlicht Alireza Rismanchian. Der Kauf des Gebäudes und die (kulturellen) Pläne der jungen Musiker*innen wurden in der Lokalpresse offen kommuniziert, von Beginn an waren die Türen offen für die Stadtbevölkerung. Die Neugier und Hilfsbereitschaft waren von Anfang an groß. Viele ehrenamtliche Helfer*innen fanden den Weg zum Bahnhof um mit anzupacken und die Kulturschaffenden zu unterstützen, diese waren sichtlich überwältigt von der Resonanz. Das positive Gefühl spüre man letztendlich auch bei den Kulturveranstaltungen selbst. Mit meist weit über einhundert Zuschauer*innen seien diese außerordentlich gut besucht. Kinderfeste und kulinarische Märkte steigern das Interesse der Lokalbevölkerung zusätzlich und binden sie in das Kulturangebot ein.
Angesichts des positiven Echos für den Kulturbahnhof Leisnig haben Alireza Rismanchian und seine Mitstreiter*innen noch viel vor. Arbeit ist genug vorhanden, Ideen und Potenzial ebenfalls. Dank der Förderung durch NEUSTART KULTUR kann neben dem Open-Air-Areal mit der neuen Bühne auch bald der neu gestaltete Innenbereich bespielt werden. Perspektivisch soll der Kulturbahnhof ein Refugium für Kulturschaffende aller Couleur werden. Die Einrichtung eines Coworking Cafés in der ehemaligen Gepäckaufbewahrungshalle ist ebenso geplant wie Gästezimmer, in denen sich Künstler*innen einquartieren und längere Zeit von diesem kreativen Ort inspirieren lassen können.
Bis dahin erfreuen sich Zuschauer*innen wie auch die Betreiber*innen an den lauen Sommernächten im Bahnhofsgarten. Auch Alireza Rismanchian greift zur Geige und stimmt in schwedische Folk-Klänge ein, vereinzelt fassen sich Zuschauer*innen ein Herz und zeigen ihre tänzerischen Fähigkeiten. An diesem Abend wird eines ganz deutlich in Leisnig: Kultur verbindet, führt zusammen, vor allem in einer ehemals darbenden Kulturlandschaft.