Das paho. Zentrum für Papier wurde als Plattform für Künstler*innen und Kunstinteressierte gegründet, die sich den vielen Facetten des Themas Papier widmen. In Workshops und partizipativen Angeboten wird Kindern sowie Erwachsenen der Werkstoff und das Handwerk dahinter nähergebracht. Claudia hat das Zentrum besucht und ist mit Gründerin Ute in die Welt des Papierschöpfens eingetaucht.
Donnerstagvormittag in Großderschau, einem brandenburgischen Dorf. Drei Künstlerinnen sitzen konzentriert im Garten, sammeln Holzstückchen aus Stroh und diskutieren die nächsten Schritte. Das „Stroh“ stellt sich auf Nachfrage als Hanfstroh heraus. 3.000 Quadratmeter haben sie von der benachbarten Agrargenossenschaft anbauen und mähen lassen. „Das war gar nicht so leicht. Hanf hat sehr lange Fasern und niemand wollte sich das Mähwerk ruinieren. Zum Glück haben sie noch einen alten Scheibenmäher gefunden“, erzählt Ute Fürstenberg, die Vierte der Runde, Gründerin des paho. Zentrum für Papier und Leiterin des Projekts Faserwerkstatt.
Anke Meixner vom Projekt Faserwerkstatt begutachtet und bearbeitet das Hanfstroh
Papierforschung im paho
„Aber das reicht ja nicht. Um Papier herzustellen, muss der Hanfstängel noch zerkleinert und entholzt werden und solche Geräte hat niemand mehr im Gebrauch.“ Aber auch hier hatten sie Glück. Bei einem Vortag in Wismar sprechen sie den Dozenten Dr. Hans-Jörg Gusovius an, der am Institut für Agrartechnik und Bioökonomie in Potsdam die Maschinen einer Pilotanlage zur Verfügung stellt. Säcke voller Hanfstroh werden durch Guillotine und Extruder gejagt, unterschiedlichste Varianten hergestellt, damit weitergeforscht werden kann, wie aus den Zwischenprodukten feines und langlebiges Papier hergestellt werden kann. Denn das ist das Ziel ihres gemeinsamen Projektes, welches am Wochenende zum Tag des offenen Ateliers auch interessierten Besucher*innen zugänglich gemacht werden soll.
Das Hanfstroh kommt durch die „Guillotine“ © Petra Walter-Moll
Eine Region mit Tradition im Papierhandwerk
Während die Künstlerinnen weiterarbeiten, führt Ute mich durch das paho. Das Haus samt Garten hat sie vor einigen Jahren erworben, um eine Basis für ihre Kulturarbeit zu schaffen und ein bundesweites Netzwerk Gleichgesinnter aufzubauen. Unzählige verschiedene Papiere sind hier zu finden, Siebe und altes Gerät, welches früher zur Papierherstellung genutzt wurde. „Havelland und Prignitz waren bekannt für Papier- und Textilherstellung, hier gab es viel Wasser, das braucht man dazu. Im Nachbarort ist auch die alte Papierfabrik, mit der wir kooperieren.“ Das historische Gebäudeensemble in Hohenofen ist heute ein technisches Denkmal von überregionaler Bedeutung.
Die ersten Versuche: geschöpftes und getrocknetes Papier
Eine Pflanzenkläranlage für das paho-Gelände
Viel ist noch zu tun auf dem paho-Gelände, das sieht man, aber Ute ist voller Tatendrang. „So nach und nach wird das schon. Ich bin froh, dass wir jetzt unser Badehaus in Betrieb haben, sonst wären solche Projekte hier gar nicht möglich.“ Badehaus? Tatsächlich, im Garten wurde ein alter Schuppen umgebaut. WCs und Waschmöglichkeiten finden sich jetzt dort und geben Besucher*innen die Möglichkeit, Sanitäranlagen außerhalb des Wohnhauses zu nutzen.
Das „Badehaus“ für Besucher*innen und Workshopteilnehmende
Wir gehen weiter und bleiben vor einer noch spärlich bewachsenen Kiesfläche stehen. „Das ist das Beste“, freut sich Ute, „eine Pflanzenkläranlage.“ Als unwissende Städterin frage ich genauer nach. „Wir hatten hier nur eine Einkammergrube. Bei solchen Veranstaltungen muss die alle paar Tage abgepumpt werden. Das kann ja niemand bezahlen!“ Nun gibt es vier Kammern, durch die das Abwasser fließt, dabei gefiltert und anschließend mittels Pumpe zum Schilfbeet transportiert wird. Durch Verteilerrohre gelangt es auf die Beetoberfläche, durchströmt das Kiesbett und wird von den Schilfwurzeln verstoffwechselt – die biologische Reinigung beginnt. Möglich waren beide Investitionen durch NEUSTART KULTUR-Fördergelder, die 2020 vom paho. beantragt wurden. Für das Kulturzentrum wäre es ohne Weiteres nicht möglich gewesen, die Mittel dafür aufzutreiben. Durch den Umbau kann der Garten nun gut als Werkstattgelände genutzt werden, steht für Workshops zur Verfügung und dient gleichzeitig als Ausstellungsfläche.
Ausstellung zum Hanf
Papierschöpfen und Gautschen
Drei Tage später bin ich erneut da. Schließlich möchte ich sehen, ob das Experiment funktioniert hat und sich nun Papier schöpfen lässt. Ich darf sogar selbst zur Tat schreiten, tauche ein Sieb in die grau-weiße Pulpe, füge Blütenblätter aus dem Garten hinzu, stülpe das Sieb auf ein Wollfilz und löse es durch vorsichtiges Hin- und Herbewegen. Gautschen nennt sich dieser Schritt. Gar nicht genug kann ich davon kriegen, denn auch das Ergebnis kann sich sehen lassen. Anderen Besucher*innen geht es ähnlich, so dass viele feine, durchscheinende Blätter entstehen.
Claudia beim Papierschöpfen
Mit vereinten Kräften hieven wir den Stapel in die altertümliche Schlagpresse und drücken noch ordentlich Wasser raus. Mehrere Tage muss das Papier hier nun trocknen. Ich werde wohl noch einmal wiederkommen müssen, um das endgültige Ergebnis betrachten zu können. Welch Freude!
Während der Pandemie wurden für den Hamburger Oberhafen zwei Audioformate entwickelt, um Besuchenden das Kultur- und Kreativquartier trotz Kontaktbeschränkungen zugänglich zu machen. Denn der inspirierende und vielfältige Ort hat nicht nur eine bewegte Geschichte, sondern lebt vom regen Austausch zwischen den Kulturschaffenden und den Besucher*innen. Ulrich Bildstein ist Geschäftsführer des Kammerkunstvereins und im Vorstand des Oberhafen 5+1 e.V. Er hat beide Audioformate mit entwickelt und umgesetzt – NEUSTART KULTUR hat sich mit ihm darüber unterhalten.
Lieber Ulrich, bitte erläutere kurz, wer hinter den Audioformaten steckt
Der Oberhafen 5+1 e.V. ist die Selbstorganisation der Nutzer*innen im Oberhafen Hamburg, dem größten kreativwirtschaftlichen Cluster der Stadt. In alten Hafenschuppen sind rund 50 Projekte ansässig, wie Handwerksbetriebe, Veranstaltungsorte, Künstler*innen und Allmende-Flächen, die für alle Bürger*innen offen stehen, die ihre Stadt mitgestalten möchten. Der Hamburger Kammerkunstverein e.V. ist einer dieser 50 Einrichtungen. Er bietet niedrigschwellige Crossover-Formate zwischen klassischer Kammermusik und Text an und agiert dabei stets abseits des subventionierten Klassikbetriebs. Die Kooperation zwischen Oberhafen 5+1 e.V. und dem Kammerkunstverein e.V. war deshalb besonders fruchtbar, weil sich hier unterschiedliche Expertisen ergänzt haben.
Ulrich Bildstein ist im Vorstand des Oberhafen 5+1 e.V. und hat beide Audioformate mit entwickelt. © kammerkunst.de
Zu welchem Zweck wurden die Audioformate entwickelt und worin unterscheiden sie sich?
Um den Oberhafen als öffentlichen Ort zu prägen und allen Besucher*innen Gelegenheit zum Mitmachen zu geben, schaffen die Nutzer*innen des Oberhafens vielfältige Möglichkeiten der Teilhabe. Es gibt öffentliche AGs und Angebote wie z.B. den Gemeinschaftsgarten, Kunstprojekte oder Sport- und Kreativkurse. Wir wollten während des Lockdowns diese Offenheit und Zugänglichkeit beibehalten und weiter entwickeln. Die Audioformate, die durch NEUSTART KULTUR realisiert werden konnten, tragen auf neue Weise dazu bei, Besucher*innen den Ort transparent zu machen und zur Partizipation einzuladen. Besucher*innen können per Audio-Track hinter die Kulissen schauen und einzelnen Betrieben einen Besuch abstatten, sich über die Geschichte des Ortes informieren, mehr über die stadtpolitischen Ziele erfahren und durch künstlerische Beiträge den Ort neu erleben. Es gibt zum Einen den Audio-Guide mit allgemeinen Informationen zum Ort und seinen vielen Projekten und zum Anderen einen Audio-Walk mit eher künstlerischen Beiträge zur Kolonial-Geschichte des Ortes, Klangkollagen und Hafenkonzerte, die zu assoziativem Hören einladen. Beide Projekte ergänzen sich und öffnen vielfältige Zugänge zum Oberhafen.
Auch ein Gemeinschaftsgarten gehört zu den Projekten des Hamburger Oberhafens.
© Oberhafen Hamburg
Wer war an der Realisierung beteiligt und wie können sie genutzt werden?
Die einzelnen Audiostationen wurden in Zusammenarbeit mit Nutzer*innen vor Ort, Zeitzeug*innen, Historiker*innen, Musiker*innen, aber auch Interviewpartner*innen der beteiligten städtischen Entwicklungsgesellschaften realisiert. Die entstanden Hörstücke sind von ganz kurz bis halbstündig und ermöglichen ein detailreiches Eintauchen in die Welt des Oberhafens. Die Audio-Formate werden am Eingang des Geländes per QR-Code und Website angeboten und Besucher*innen benötigten nichts weiter als ein Smartphone. Sie erkunden das Gelände dann Station für Station, bestimmen selbst ihr Tempo und welche Themen sie besonders interessieren.
Was schätzt du an diesen Formaten besonders?
Das Medium kann von jeder Person ganz leicht genutzt werden, denn ein Smartphone haben die meisten immer bei sich. Es verbindet Menschen mit Orten, regt zum Nachdenken an, schafft neue Kollaborationen und ist in seiner Vielstimmigkeit ein Beitrag zu einer lebendigen Zivilgesellschaft.
Wie Besucher*innen bei dieser interaktiven Installation mitmachen können, erklärt ihnen ein*e Ausstellungsbetreuer*in. Sie können selbst Teil der Ausstellung werden, sich ausprobieren, mitgestalten oder einfach nur zuschauen. Die Ausstellungen beim Gaswerk Weimar stellen die Arbeiten lokaler Künstler*innen vor. Sie sind so vielfältig wie die Menschen dieser Stadt, machen Spaß, laden zum Mitmachen ein und regen zum Nachdenken an.
Das Gaswerk Weimar ist ein Ort für Kreativität und Begegnung. Es ist Produktionsstätte, Werkstattbetrieb und Ausstellungsfläche. Kinder und Jugendliche lernen handwerkliches Gestalten, Senior*innen finden neue kreative Herausforderungen, Rentner*innen nutzen Angebote, um aktiv zu bleiben, Künstler*innen realisieren ihre Projekte. Hier stehen die Türen offen für Menschen, ihre Bedürfnisse und Ideen. Das Motto: „Kommt vorbei – seid dabei – macht mit!“
Nur zu Fuß erreichbar, uralt und nun wiederentdeckt. Das ist der Waldschlucht Baustellenkiosk in Bad Kohlgrub, einem kleinen oberbayerischen Dorf im Kreis Garmisch-Partenkirchen. Karola Woll macht sich auf den Fußweg, um mehr darüber zu erfahren, wie diese städtische Idee für ein Kulturzentrum auf dem Land unter Beteiligung der Anwohner*innen umgesetzt wird.
Mein Weg beginnt am Parkplatz des Sportplatzes in Bad Kohlgrub. Von hier aus geht es nicht mehr mit dem Auto weiter, sondern, wie für alle Besucher*innen des Waldschlucht Baustellenkiosks, zu Fuß. Eine Schiefertafel weist mir den Weg, der mich über einen unasphaltierten Waldweg in den Wald führt. Die Sonne ist schon fast untergegangen und die Strecke zum Baustellenkiosk ist dunkel und unbeleuchtet. Später lerne ich, dass es dafür einen sehr guten Grund gibt: die Tiere und das Leben im Wald sollen nicht durch Beleuchtung gestört werden. Dieser Respekt vor der Natur und der Einbezug der lokalen Bevölkerung sind bezeichnend für das Konzept des Waldschlucht Baustellenkiosks, das folgendem Prinzip folgt: Die Idee, die in einer Stadt, nämlich in München, geboren wurde, soll in Einklang mit dem stehen, was auf dem Land schon lange vor der Idee vorhanden war – nämlich den Bewohner*innen und natürlich der Natur.

Rosi von früher
Nach einem zehnminütigen Fußmarsch durch den dunklen Wald mit beruhigender Soundkulisse sehe ich Licht. Vorbei an einem kleinen Naturpool empfangen mich kleine Büdchen und Zelte, liebevoll hergerichtet aus gebrauchten Materialien und mit Sitzmöbeln bespickt. Auf der kleinen Bühne spielt eine Band Hard Rock. An der Theke des Verpflegungsbüdchens, das für seine leckeren hausgemachten Pommes bekannt ist, entdecke ich das Bild einer alten, herzlich aussehenden Dame. Sie serviert lächelnd Kaffee und Kuchen und strahlt Wärme und Geselligkeit aus. „Das ist Rosi. Sie war die gute Seele des Waldcafés“, meint Charlotte Höltzig, die den Waldschlucht Baustellenkiosk leitet und mir alle interessanten Dinge zur Entstehung und zum Betrieb der Kulturstätte erzählt.
Denn an diesem faszinierenden Ort in den Bergen, umgeben von Grün, Idyll und Ruhe, gab es schon in den 1920er Jahren ein Café mit Waldbühne. Es war, wie heute wieder, ein beliebtes Ausflugsziel im Ammertal. Bereits damals lockten Theater, Musik, Freibad, Kuchen und Zusammenkommen die Bewohner*innen aus den umliegenden Dörfern an. Lange Zeit lag dieser Ort der Geselligkeit brach, bis die Brüder Julian und Daniel Hahn ihn wiederentdeckten. Die beiden Geschäftsführer etablierten bereits in München mit viel Kreativität, Mut und vor allem Erfolg die Kulturbetriebe Gans woanders, Gans am Wasser, Café Lozzi und die Alte Utting. Mit dem Reiz, dass hier viel mehr Platz vorhanden ist als in der Stadt, verfolgen Julian, Daniel sowie Charlotte die Vision, auf dem Land eine Kulturstätte mit Einflüssen zu bieten, die ein bisschen anders sind.

Bayerische Weltmusik und Kunsthandwerk von heute
Und diese etwas anderen Einflüsse findet man unter anderem im Musikprogramm: von Skandinavischen Klängen, Latin-Pop, Salsa, Electronic Music, Lo-fi, über Bayerisch Italo-Folk, Experimental Indie Folk, Bayerisch Blues, Global Beats, bis Rock, Pop und Punk. Alles dargeboten von Musiker*innen und Bands aus der Region, die teilweise schon 20 oder 30 Jahre existieren. So ist die Verbindung zum bereits Vorhandenen hergestellt. Und diese ist außerordentlich harmonisch. Charlotte erzählt mir, dass die Beziehungen zu den Bands sehr persönlich sind und auch mit anderen Kultureinrichtungen enge Kollaborationen bestehen, wie beispielsweise mit dem Forum Westtorhalle e. V. aus dem naheliegenden Murnau.
Neben dem musikalischen Bühnenprogramm finden unter der Rubrik „Waldzeit“ Workshops in Landart, Linoldruck oder Basteln und gemeinschaftliche körperliche Aktivitäten statt. Schon die ganz Kleinen werden in einem Kinderprogramm mit Basteln, Schminken, Naturmaterialien und Upcycling an Kultur und Natur herangeführt. Die Workshopleiter*innen sind natürlich ebenfalls aus der Region, einem Landstrich, in dem Kunsthandwerk überall sichtbar ist und gelebt wird, zum Beispiel in der Bildhauerei. Daher sind Kunst und Kultur hier fest im alltäglichen Tun integriert und eingebunden.

Alles ist miteinander verbunden – Zusammenhalt
Im Großen wie im Kleinen unterstützen die Bad Kohlgruber*innen den Waldschlucht Baustellenkiosk, wie auch der Bürgermeister, der genau wie viele Anwohner*innen zur Eröffnung im Sommer 2021 kam. Zehn Bad Kohlgruber*innen halfen sogar, den schweren Werkzeugträger, der normalerweise von einem Auto gezogen werden muss, vom Gelände zu schieben, damit die Feier noch gemütlicher werden konnte. Hier kennt man sich untereinander und trifft sich zum Austausch, Beisammensein und um unterschiedliche Sichtweisen auszudiskutieren. Der Waldschlucht Baustellenkiosk scheint dafür der ideale Ort zu sein: Er versammelt viele verschiedene Leute um sich und fördert Gemeinschaft und Zusammenhalt. Es herrscht eine aufgeschlossene, ruhige und tolerante Atmosphäre.
Und ich glaube, Rosi würde das heutige Programm und das Konzept ihrer einstigen Wirkungsstätte sehr gefallen. Eine Idee aus der Stadt, gepaart mit Respekt vor der Natur und Einbeziehung vorhandener ländlicher Strukturen, haben den Waldschlucht Baustellenkiosk zu einer prosperierenden Stätte für kulturelle Teilhabe gemacht.
Was ist, wenn die Realität ein Leben auf der Straße ist und nicht in der Geborgenheit der eigenen vier Wände? Was bedeutet „zu Hause“? Diesen Fragen geht das Team von atelier-dreieck rund um Künstlerin Kerstin Schulz mit ihrem Schwarmkunstprojekt Ob(D)Acht – My home is my Castle nach. Förderreferentin Michaela hat das außergewöhnliche Projekt des Schwarmkunst e.V. in Hannover besucht.
Auf dem Weg vom Hauptbahnhof kurz vor dem Ausstellungsgelände am Georgsplatz sehe ich sie bereits: Tausende von PET-Flaschen spiegeln sich in der Sonne, farbig anzuschauen, zu Türmen aufgebaut. Schon von weitem eine beeindruckende Konstruktion. Schwarmkunst nennt sich das, was von Anfang Juni bis Ende August in der Hannover Innenstadt der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Künstlerin, Ideengeberin und künstlerische Leiterin des Projekts Ob(D)Acht – My home is my Castle Kerstin Schulz klärt auf, was sich dahinter verbirgt: „Wir möchten gesellschaftspolitische Themen mit den Mitteln der Kunst hinterfragen. Die Schwarmkunst ist eine sozial interaktive Kunstrichtung, die professionell initiiert und angeleitet werden muss, sich dann aber selbstständig fortsetzt. Dabei entstehen erfahrungsgemäß intensive Kontakte unter den Schwarmkünstler*innen. Schwarmkunst ist ein niedrigschwelliges Angebot. Jeder kann mitmachen. Auch kleinste Beiträge summieren sich zu einem großen Ganzen.“
Kurzum: Die Schwarmkunst soll Menschen zu eigenem partizipatorischen und schöpferischen Tun motivierten, indem sie aktive Begegnung mit bildender Kunst durch öffentliche Mitwirkungsprojekte fördert. Schwarmkunst fördert die Zusammenarbeit, den Teamgeist, da nur gemeinsam das geschafft werden kann, was vorgesehen ist. Durch das gemeinsame Arbeiten an der Installation kommen Obdachlose, Passant*innen, Anwohner*innen und weitere Projektbeteiligte ins Gespräch. Das Ziel ist eine „sehende“ Auseinandersetzung mit dem Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit und bestehenden gesellschaftlichen Werten. Die Kunstinstallation stellt Fragen in den Raum, die zum Diskutieren und Nachdenken anregen sollen.
Projektleiterin Kerstin Schulz inmitten der PET-Flaschen-Burg
Die Bedeutung des Flaschensammlens für Obdachlose
Die Idee, sich mit dem Thema Obdachlosigkeit eingehender zu beschäftigen, basiert auf einer Begegnung der Künstlerin mit zwei Obdachlosen am Berliner Hauptbahnhof, als sie dort ein anderes Projekt begleitete: „Diese eine Woche am Bahnhof im Sommer 2019, bei fast 40 Grad, war sehr intensiv und ich habe viel über das Leben auf der Straße erfahren – auch wie immens wichtig das Flaschensammeln für viele Obdachlose ist. Das hat mich zu der Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit geführt und zu der Idee eine Burg aus PET-Flaschen zu bauen.“
Innerhalb von drei Monaten entstand eine mit Augeniris-Fotos beklebte PET-Flaschen-Installation. Die ursprüngliche Planung einer hohen Burg durfte aus Gründen der Sicherheit nicht umgesetzt werden. Daher wurde die Installation niedriger und in die Breite gebaut. Das Ergebnis ist dennoch beindruckend: Fünf etwa 3 Meter hohe Türme mit Burgmauern und Fenstern ergeben das Bild einer Behausung.
Vorbereitungs- und Bauphase: Aus PET-Flaschen wird Kunst
Kerstin Schulz legt noch letzte Hand an eine Umzäunung, damit die Besucher*innen der Ausstellungseröffnung, die an diesem Tag um 17 Uhr stattfinden wird, gut auf das mit Bauzäunen abgesperrte Gelände kommen. „Leider mussten wir unser Projekt mit Bauzäunen schützen, da es einige Male zur Zerstörung der Objekte kam und viele der PET-Flaschen geklaut wurden“, erzählt sie. „Wir haben es geschafft, mittels der Bauzäune und Videokameras das Projekt zu schützen, aber es ist schade, dass so etwas überhaupt sein muss“. Jetzt da der große Tag der Ausstellungseröffnung gekommen ist, bleibt Kerstin Schulz ruhig. Die Zeit der Vorbereitung und der Bauphase sei sehr viel intensiver gewesen. Und tatsächlich, was vorab geleistet wurde, ist ebenso beindruckend wie die Installation selbst. „Als im März die Förderzusage kam, mussten wir sofort loslegen“, sagt die Künstlerin. Der Bauplan für die Installation war schon fertig, musste aber einige Male umgeändert werden, bis die zuständige Behörde die Genehmigung erteilte. Erst dann konnte mit dem Aufbau der Gitterunterkonstruktion begonnen werden. Zudem musste die benötigte Anzahl PET-Flaschen beschafft werden. Ein Marathon im wahrsten Sinne, bei dem der Hannover Marathon eifrig mithalf, und es Unterstützung von den Kunstfestspielen Herrenhausen, der Caritas und Extaler gab. Schlussendlich gelang es, 40.000 PET-Flaschen zu erhalten.
Das Ziel des Projekts ist eine sehende Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit
Am 4. Juni startete das Projekt auf dem Georgplatz. Viele Neugierige kamen zu den fünf Burgtürmen, zu diesem Zeitpunkt nur eine Holz- und Drahtkonstruktion, die in den kommenden Wochen mit den tausenden von PET-Flaschen bestückt werden sollten. Die ersten Flaschen wurden von Kerstin Schulz, Jan Tessmer und Lars Adolph von Schwarmkunst e.V., dem Träger des Projekts, eingedreht. „Bereits zwei Wochen später war der tipping point erreicht“, erinnert sich Kerstin Schulz. „Der Moment, wenn erkennbar wird, das etwas entsteht und der Prozess eine gewisse Dynamik erreicht“.
Schwarmkünstler*innen, Begegnungen und Streetwork
Während der Bauphase, die sich über die nächsten beiden Monate erstrecken sollte, gab es nicht nur Schwarmkunst, also das gemeinsame Eindrehen der Flaschen, und die Augenirisfotografie von allen jenen, die dabei mithalfen, sondern auch Beratungen auf dem Platz.
Die Caritas bot zweimal in der Woche eine Gesundheitsberatung für Obdachlose an, fast jeden Werktag war ein Sozialarbeiter vor Ort. Die Leiterin der Wohnungslosenhilfe der Caritas Ramona Pold äußert sich begeistert: „Wir haben hier so viele gute und interessante Gespräche führen können, viel mehr und viel intensiver, als wir es jemals in unseren Büroräumen hätten tun können“. Auch die Straßenambulanz findet wöchentlich den Weg zu den Burgtürmen. Der Anwalt Andreas Sylvester von StiDu e.V. (Stimme der UNgeHÖRTen e.V.) richtete einmal wöchentlich eine ambulante Rechtsberatung ein.
Die Schwarmkünstler*innen Peter, Kerstin und Klaus (v.l.n.r.)
Ein Schwarmkünstler der ersten Stunde, Klaus Ehlers, der täglich mit Leidenschaft Flaschen eindrehte, wurde von dem Projekt inspiriert, seine eigene Installation zu bauen. Sein Titel „Leben im Nichts“ soll darauf aufmerksam machen, dass Wohnungslose auf mehr verzichten müssen als nur auf die Wohnung, dass es ihnen auch an alltäglichen Gegenständen fehlt, wie Tisch, Stuhl, Schrank. Klaus Ehlers ist begeistert von dem Projekt: „Ich bin von Beginn an dabei, ein Ob(D)Acht-Schwärmer der ersten Stunde also. Ich hatte auch vorher schon eine gewisse Affinität zu Installationen und verfüge auch über einiges handwerkliches Geschick, aber es ist das erste Mal, dass ich im Rahmen eines professionellen Kunstprojekts mitarbeiten kann.“ Seitdem ist er täglich auf dem Platz und beschäftigt sich mit Obdachlosigkeit, die er aus eigener Erfahrung kennt, und der Kunst. „Für einen wie mich, der so lange am unteren Limit leben musste, ist das eine wichtige Erfahrung.“
Das Finale: Ausstellungseröffnung und Nebenausstellungen
Am 4. August ist es dann soweit: Die 40.000 PET-Flaschen waren eingedreht, die meisten davon mit Irisfotografien versehen, und die Ausstellung wird offiziell eröffnet. Etwa 800 Personen hatten sich aktiv an der Schwarmkunst beteiligt, so Dr. Jürgen Rink von Schwarmkunst e.V. bei seiner Eröffnungsrede. Während der dreiwöchigen Ausstellungsphase werden weitere 1050 Besucher*innen zu den Veranstaltungen oder einfach zum Schauen vorbeikommen.
Ausstellungseröffnung am 4. August 2022 auf dem Georgplatz in Hannover
Neben der eigentlichen PET-Flaschen Ausstellung waren bis zum 25. August noch weitere Parallelausstellungen auf dem Platz zu sehen, die sich mit dem Thema Obdachlosigkeit beschäftigt haben. Darunter die oben bereits erwähnte Installation von Klaus Ehlers „Leben im Nichts“.
Ulla Neubauer von der Zentralen Beratungsstelle Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werkes Hannover initiierte ein Projekt mit Wohnungslosen zum Thema Wohnungslos in Zeiten der Pandemie, bei der die Auswirkungen der Pandemie auf deren Leben dargestellt werden sollte. Es entstanden viele interessante Kunstwerke.
Die Fotografin Karin Powser zeigte ihre Fotoausstellung „Wohnkomfort in neuem Stil“. Sie selbst lebte bereits als Jugendliche auf der Straße, insgesamt 15 Jahre lang. Dann entdeckte sie per Zufall die Fotografie und begann, ihre Kumpels und ihr Umfeld zu fotografieren. Später fotografierte sie für Sozialdokumentationen. Mittlerweile sind ihre Bilder bundesweit in Ausstellungen zu sehen und mit Preisen honoriert.
Von dem Fotografen Thomas Deutschmann war die Ausstellung Ans Licht zu sehen. Er besuchte 1971 das Obdachlosenlager Vinnhorster Weg in Hannover und fotografierte dort über einige Monate. In den Baracken lebten damals mehr als dreihundert Menschen, darunter viele Familien mit Kindern. Aktuell ist er in einem weiteren Projekt dabei, die Kinder von damals ausfindig zu machen und zu sehen, was aus ihnen geworden ist – sie sozusagen „ans Licht“ zu bringen.
Überschattet wurde die Ausstellungseröffnung vom plötzlichen Tod Volker Kühns. Der ehemalige Schauspieler, seit einigen Jahren wohnungslos in Hannover lebend, war ebenfalls ein eifriger Schwarmkünstler. Vorgesehen war seine Lesung „Lass sich ja nicht mehr hier blicken“. Stattdessen hielt Peter Wefer, Schriftsteller und ebenfalls ehemals Obdachloser, eine bewegende Rede auf Volker Kühn.
„Der Abschluss und der Abbau werden sehr traurig werden“, sagt Kerstin Schulz mit Blick auf das Projektende. So sei es immer, wenn über längere Zeit sehr intensiv mit mehreren Menschen zusammengearbeitet wurde und alle sich in dieser Zeit ein Stück nähergekommen sind. „Aber wir haben ein Zeichen gesetzt, Menschen kamen miteinander in Kontakt. Wir haben mit diesem Projekt zum Nachdenken angeregt – das war das Ziel.“
Ergänzende Lesungen, u.a. von Peter Wefer, sowie Gesprächsforen zum Thema Obdachlosigkeit rundeten die Ausstellung ab. Die Abschlussveranstaltung, bei der der Oberbürgermeister von Hannover Belit Onay Rede und Antwort stand, fand unter dem Motto „2030 – Keine Obdachlosigkeit in Hannover!?“ am 25. August statt.