Das Göttinger “boat people projekt” lebt Diversität in allen Bereichen – von der Bühne über das Publikum bis hin zur Leitungsebene. Welchen Herausforderungen das Team dabei begegnet, davon berichtet Theatermacher Reimar de la Chevallerie.
Das boat people projekt ist ein als Verein und Kollektiv organisiertes Freies Theater in der Göttinger Weststadt. Seit 2009 steht politisches Theater zu den Themen Flucht und Migration auf dem Spielplan. Damals arbeiteten die Theatermacherinnen und Gründerinnen Luise Rist und Nina de la Chevallerie vor allem mit Geflüchteten zusammen und brachten gemeinsam deren Fluchterfahrungen auf die Bühne und an die Öffentlichkeit. Auch Theatermacher Reimar de la Chevallerie war damals schon beteiligt und erinnert sich: “Durch die Residenzpflicht war es sehr schwierig, mit Geflüchteten aus den umliegenden Städten zusammenzuarbeiten.“ Als im Zuge der großen Migrationsbewegungen im Sommer 2015 wieder viele professionelle Theatermacher*innen aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland kamen, wollten auch die großen städtischen Theater Ensembles mit Geflüchteten gründen, berichtet de la Chevallerie. „Wir waren damals sozusagen bereits Expert*innen für die Zusammenarbeit mit Geflüchteten und viele kamen auf uns zu und haben uns nach unserer Expertise gefragt.“
Der Werkraum: Die Werk- und Wirkstätte des boat people projektes in der Göttinger Weststadt
Soziokultur in der Göttinger Weststadt
Neben den Schauspielproduktionen bietet das boat people projekt heute auch viele soziokulturelle Angebote an. In den sogenannten „Clubs“ für Kinder, Jugendliche oder Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen arbeiten diese gemeinsam an Film-, Musik- und Theaterprojekten. Die Projekte sprechen insbesondere auch Menschen aus den umliegenden Unterkünften für Geflüchtete an. Hier kommen Neu- und Alt-Göttinger*innen zusammen. „Das ist supertoll für den Stadtteil, der in Göttingen oft als ein sozialer Brennpunkt betrachtet wird“, berichtet de la Chevallerie. Das Theater liegt in einem Gewerbegebiet, circa drei Kilometer vom Göttinger Hauptbahnhof entfernt.
Die jungen Eriks sind eine regelmäßige Theatergruppe junger Erwachsener mit und ohne Beeinträchtigungen | © boat people projekt e.V.
Besonders wichtig ist es dem boat people projekt, auch für ein diverses Publikum zu spielen. „In unserem Team arbeitet eine transkulturelle Netzwerkerin, welche gezielt unterschiedliche Publikumsgruppen anspricht und auf unser Programm aufmerksam macht“, erzählt de la Chevallerie. Mit dieser direkten und auf Nachhaltigkeit zielende Ansprache und auch neuen technischen Mitteln, wie den Augmented-Reality-Brillen, durch die eine direkte Übersetzung in verschiedene Sprachen möglich ist, erreicht das Theater mittlerweile Gäste aus vielen verschiedenen Gruppierungen.
Vorherrschende Machtstrukturen aufbrechen
Auch das siebenköpfige Kernteam und die 50 weiteren mitarbeitenden Performer*innen, Musiker*innen und Techniker*innen setzen sich heute aus Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und kultureller Hintergründe zusammen. Viele haben auch selbst eine Flucht- oder Migrationsgeschichte. Um einen Umgang mit nach wie vor bestehenden Hierarchien und Privilegien zu finden, bildet sich das Team in Workshops stetig weiter. Es wird viel über patriarchale und koloniale Machtstrukturen diskutiert und versucht, diese aufzubrechen – nicht ohne sich auch immer wieder selbst kritisch in Frage zu stellen. Reimar de la Chevallerie, der sich als privilegierten weißen Mann bezeichnet, erinnert sich, dass eine Kollegin in einem dieser Workshops einmal zu ihm sagte: „Ich habe das Gefühl, dass deine Stimme immer doppelt so viel zählt.“ Dem Theatermacher hilft dieser Austausch, sein Verhalten und die Struktur im boat people projekt zu ändern.
Die Kinder des Kinderclubs profitieren vom bunten Kostümfundus des Theaters | © boat people projekt e.V.
Diversität auf allen Ebenen
Reimar de la Chevallerie setzt sich mit dem deutschen Kultursystem auseinander, in dem, wer Geld und Macht hat, auch die Themen bestimmen kann. Er findet: „Diversität muss es auch auf Leitungs- und Regieebene geben, sonst ändert sich auch in den Besetzungen nichts.“ Und so versucht das Freie Theater bewusst Regie- und Leitungspositionen mit unterschiedlichen Perspektiven zu besetzen. So wird auch mit verschiedenen Formaten und ästhetischen Formen experimentiert. Zudem wird die eurozentrische Sichtweise auf gesellschaftliche Probleme reflektiert und versucht, das eigene Programm hinsichtlich Themen und Stückauswahl zu dekolonisieren. “Hier in Göttingen haben wir das Glück, etwas unter dem Radar zu sein und auch mal etwas ausprobieren zu können.“
Das boat people projekt ist für ihn und die 50 Kolleg*innen zu einem Ort geworden, an dem sich vieles in Kooperationen und dem gemeinsamen Schaffen ausprobieren lässt. Für die Förderprogramme würde Reimar sich wünschen, dass es für solche Prozesse des Experimentierens mehr Zeit gäbe, um sich zunächst kennenzulernen, um Barrieren zu benennen und abbauen zu können. Dafür müssten die Förderzeiträume für Produktionen verlängert würden.
Reimar de la Chevallerie mit dem geförderten E-Lastenrad vor dem Werkraum
Mit professionellem Equipment durch die Pandemie
Die NEUSTART KULTUR-Mittel haben dem boat people projekt in der Pandemie sehr geholfen. „Wir hätten schon irgendwie auch ohne weiter machen können. Draußen mit zwei improvisierten Lampen vielleicht. Aber durch die Förderung konnten wir eben wirklich professionell weiterarbeiten“, freut sich de la Chevallerie. Neben den Scheinwerfern halfen auch Outdoor-Boxen und ein Outdoor-Mischpult, die Proben und Aufführungen ins Freie zu verlegen. Und das grüne E- Lastenrad samt Fahrradanhänger machte den Transport zu den neuen Veranstaltungsorten um einiges nachhaltiger.