Der Oberhausener Verein kitev nutzt auch und gerade in Pandemiezeiten ein ehemaliges Industriegelände, um Menschen zusammenzubringen. Die Fördermittel durch NEUSTART KULTUR haben der Digitalisierung des Vereins Anschub verliehen und die pandemiegerechte Umgestaltung der Räumlichkeiten ermöglicht.
Erdnüsse und Chips? Ich sitze mit rauchendem Kopf über einem zu prüfenden Beleg eines Verwendungsnachweises und versuche, die nicht-förderfähigen Snacks von den drei bewilligten vollautomatischen Sensor-Touch-Hygienestationen zu trennen. Da fällt mein Blick auf die Uhr. Zeit, den Essener Schreibtisch zu verlassen und sich eine geförderte Kultureinrichtung mal vor Ort anzuschauen. In der Praxis, ganz abseits der digitalen Akten, wie aufregend!
Der Bus 143 rattert vorbei an Büdchen, Kiosken und Trinkhallen – die man hier im Ruhrgebiet auf keinen Fall „Späti“ nennen darf – und spuckt mich schließlich am Oberhausener Hauptbahnhof aus. Und da ist er, der ehemalige Wasserturm, der dem soziokulturellen Zentrum kitev - was für „Kultur im Turm e.V.“ steht - als Hauptquartier dient. Seit 2006 gestaltet der Verein in Oberhausen ein vielfältiges Programm rund um Kunst und Kultur und adressiert damit immer auch die direkte Nachbar*innenschaft.
Ich werde von den drei Mitarbeiter*innen Markus Kötting, Gianna Gardeweg und Stefan Schroer fröhlich in Empfang genommen und Stück für Stück in die Historie des Vereins eingeführt und dabei zu den verschiedenen Spielstätten rund um den Bahnhof geführt.
Aus alt und stillgelegt mach Kultur!
Angefangen hat alles mit den Künstler*innen und Architekt*innen Agnieszka Wnuczak, Christoph Stark und Stefan Schroer, die den Auftrag bekamen, die im Jahr 1996 stillgelegten Bahngleise 4 und 5 des Oberhausener Bahnhofs zu einem Museumsbahnhof umzugestalten. Der Bahnhof, der 1847 eröffnet wurde und damit älter als die Stadt Oberhausen selbst ist, wurde damit auch zur Open-Air-Spielstätte für Kunst und Kultur.
Museumsbahnsteig Gleis 4 und 5 am Bahnhof Oberhausen
Foto © Pia Sollmann / Bundesverband Soziokultur e.V.
Schnell fällt mein Blick vom leeren Bahnsteig auch auf den gegenüberliegenden Turm im Bahnhofsgebäude. Früher diente dieser einem großen Wasserspeicher für die alten Dampfloks, die anderen Räume wurden als Büros und Übernachtungsmöglichkeiten für die Schaffner*innen genutzt. Durch technischen Fortschritt war der Wasserspeicher bald nicht mehr nötig, die Räume leerstehend und die Künstler*innen sahen in dem alten Turm einen perfekten weiteren Standort für die Oberhausener Kultur. Mit der Deutschen Bahn wurde ein Nutzungsvertrag ausgehandelt, der noch bis mindestens 2040 läuft und über den die kitev-Mitglieder sehr erfreut sind – eine Situation, von der viele Kultureinrichtungen nur träumen können.
Ich freue mich, dass die bewilligten Mittel dadurch noch lange an Ort und Stelle ihren Zweck erfüllen dürfen und die detaillierten - für die Antragsteller*innen sicherlich oft aufreibenden - Nachfragen in der Antragsbearbeitung ihren Sinn hatten.
Wasserturm und kitev-Zentrale vom Museumsbahnsteig aus betrachtet
Foto © Pia Sollmann / Bundesverband Soziokultur e.V.
Vielfältige Kulturangebote für Oberhausen und das Ruhrgebiet
Vom Turm aus organisiert kitev nun das Programm im Turm selbst, auf dem Museumsbahnsteig, in einem leerstehenden „Supermarkt der Ideen“, im „Unterhaus“ sowie bei Bedarf in der ganzen Stadt. Der Verein und die Stadt profitieren von verschiedenen Förderprogrammen, deren Ziel es ist, den Strukturwandel im Ruhrgebiet voran und es mit Kultur wieder zum Glänzen zu bringen.
Und davon haben natürlich auch die Nutzer*innen der zahlreichen kitev-Angebote etwas: die „Refugees‘ Kitchen“ ist eine von Geflüchteten, Künstler*innen und geflüchteten Künstler*innen gebaute und betriebene mobile Küche, die von Ort zu Ort zieht und durch das gemeinsame Kochen und Essen Menschen zusammen und ins Gespräch bringt.
Die Freie Universität Oberhausen – übrigens gefördert im Programm UTOPOLIS – setzt dem Mangel an Universitäten oder Fachhochschulen in der Stadt etwas entgegen. Hier sind alle Menschen eingeladen, sich in verschiedenen Bereichen, von Upcycling über Gärtnern bis hin zu Migrationsthemen, fortzubilden oder selbst etwas zu lehren – und das geht hier sogar ohne Grundschulabschluss.
Im „Unterhaus“, dem Ladenlokal des sogenannten „Oberhauses“, einem Wohnhochhaus, das immer wieder als problematisch wahrgenommen wird, ist ein Kieztreff entstanden. Hier können Gruppen Treffen abhalten und es gibt KüfA (Küche für Alle) zum kleinen Preis, die die Bewohner*innen des stigmatisierten Hauses, Nachbar*innen und kulturell Interessierte zusammenbringen will.
Weitermachen trotz Corona
Die Corona-Pandemie kam den zahlreichen Vorhaben von kitev natürlich in die Quere. Veranstaltungen, Kurse, Workshops und Nachbarschaftstreffs mussten abgesagt werden. Je nach Pandemielage konnten noch Angebote stattfinden. Online-Angebote waren oftmals keine Alternative, da viele der Nutzer*innen nur im Direktkontakt auf der Straße abzuholen sind und durch Online-Angebote nicht angesprochen würden. „Immerhin hatten wir Glück im Unglück“, so Markus Kötting, „als Verein mit ohnehin ausschließlich kostenfreien Veranstaltungen, sind wir nicht von Eintrittserlösen abhängig“.
Mithilfe der Mittel durch NEUSTART KULTUR - Zentren konnten jedoch Angebote aufrechterhalten werden. Luftreiniger, ein leistungsstärkerer Internetzugang und eine erneuerte Website ermöglichten die Weiterarbeit vor Ort und digital und außerdem neue hybride Theaterformate. Durch ein neues Lichtleitsystem konnte der Museumsbahnhof im Sommer auch verstärkt als pandemiesichere Kulisse für Theateraufführungen und Open-Air-Kino genutzt werden.
Filmvorführung auf dem Museumsbahnsteig
Foto © kitev e.V.
Was Gianna Gardeweg, Markus Kötting und Stefan Schroer von kitev aus der Coronazeit mitnehmen, ist die gute Vernetzung, sowohl technisch als auch menschlich und institutionell, die sie in Pandemiezeiten weiter ausgebaut und umgesetzt haben. Abgesehen davon kann aber gerne schnell alles wieder pandemiefrei werden und es zurück zu vollen Küfa-Abenden, vollen Workshops und Seminaren mit ganz viel Kontakt gehen – denn davon lebt sie ja, die Soziokultur.
Völlig erschöpft von meinem Ausflug bin ich dann wieder in den 143er-Bus gestiegen und an den Schreibtisch zurückgekehrt. Erstmal wieder einen Beleg prüfen und runterkommen - von so viel Soziokultur in der Praxis.