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14. September 2022

#neustartkultur, Allgemein

Ob(D)acht – My Home is my Castle: Partizipative Schwarmkunst in Hannover

Von: Michaela Birk

Was ist, wenn die Realität ein Leben auf der Straße ist und nicht in der Geborgenheit der eigenen vier Wände? Was bedeutet „zu Hause“? Diesen Fragen geht das Team von atelier-dreieck rund um Künstlerin Kerstin Schulz mit ihrem Schwarmkunstprojekt Ob(D)Acht - My home is my Castle nach. Förderreferentin Michaela hat das außergewöhnliche Projekt des Schwarmkunst e.V. in Hannover besucht.

Auf dem Weg vom Hauptbahnhof kurz vor dem Ausstellungsgelände am Georgsplatz sehe ich sie bereits: Tausende von PET-Flaschen spiegeln sich in der Sonne, farbig anzuschauen, zu Türmen aufgebaut. Schon von weitem eine beeindruckende Konstruktion. Schwarmkunst nennt sich das, was von Anfang Juni bis Ende August in der Hannover Innenstadt der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Künstlerin, Ideengeberin und künstlerische Leiterin des Projekts Ob(D)Acht - My home is my Castle Kerstin Schulz klärt auf, was sich dahinter verbirgt: „Wir möchten gesellschaftspolitische Themen mit den Mitteln der Kunst hinterfragen. Die Schwarmkunst ist eine sozial interaktive Kunstrichtung, die professionell initiiert und angeleitet werden muss, sich dann aber selbstständig fortsetzt. Dabei entstehen erfahrungsgemäß intensive Kontakte unter den Schwarmkünstler*innen. Schwarmkunst ist ein niedrigschwelliges Angebot. Jeder kann mitmachen. Auch kleinste Beiträge summieren sich zu einem großen Ganzen.“

Kurzum: Die Schwarmkunst soll Menschen zu eigenem partizipatorischen und schöpferischen Tun motivierten, indem sie aktive Begegnung mit bildender Kunst durch öffentliche Mitwirkungsprojekte fördert. Schwarmkunst fördert die Zusammenarbeit, den Teamgeist, da nur gemeinsam das geschafft werden kann, was vorgesehen ist. Durch das gemeinsame Arbeiten an der Installation kommen Obdachlose, Passant*innen, Anwohner*innen und weitere Projektbeteiligte ins Gespräch. Das Ziel ist eine „sehende“ Auseinandersetzung mit dem Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit und bestehenden gesellschaftlichen Werten. Die Kunstinstallation stellt Fragen in den Raum, die zum Diskutieren und Nachdenken anregen sollen.

Kerstin SchulzProjektleiterin Kerstin Schulz inmitten der PET-Flaschen-Burg

Die Bedeutung des Flaschensammlens für Obdachlose

Die Idee, sich mit dem Thema Obdachlosigkeit eingehender zu beschäftigen, basiert auf einer Begegnung der Künstlerin mit zwei Obdachlosen am Berliner Hauptbahnhof, als sie dort ein anderes Projekt begleitete: „Diese eine Woche am Bahnhof im Sommer 2019, bei fast 40 Grad, war sehr intensiv und ich habe viel über das Leben auf der Straße erfahren – auch wie immens wichtig das Flaschensammeln für viele Obdachlose ist. Das hat mich zu der Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit geführt und zu der Idee eine Burg aus PET-Flaschen zu bauen.“

Innerhalb von drei Monaten entstand eine mit Augeniris-Fotos beklebte PET-Flaschen-Installation. Die ursprüngliche Planung einer hohen Burg durfte aus Gründen der Sicherheit nicht umgesetzt werden. Daher wurde die Installation niedriger und in die Breite gebaut. Das Ergebnis ist dennoch beindruckend: Fünf etwa 3 Meter hohe Türme mit Burgmauern und Fenstern ergeben das Bild einer Behausung.

Vorbereitungs- und Bauphase: Aus PET-Flaschen wird Kunst

Kerstin Schulz legt noch letzte Hand an eine Umzäunung, damit die Besucher*innen der Ausstellungseröffnung, die an diesem Tag um 17 Uhr stattfinden wird, gut auf das mit Bauzäunen abgesperrte Gelände kommen. „Leider mussten wir unser Projekt mit Bauzäunen schützen, da es einige Male zur Zerstörung der Objekte kam und viele der PET-Flaschen geklaut wurden“, erzählt sie. „Wir haben es geschafft, mittels der Bauzäune und Videokameras das Projekt zu schützen, aber es ist schade, dass so etwas überhaupt sein muss“. Jetzt da der große Tag der Ausstellungseröffnung gekommen ist, bleibt Kerstin Schulz ruhig. Die Zeit der Vorbereitung und der Bauphase sei sehr viel intensiver gewesen. Und tatsächlich, was vorab geleistet wurde, ist ebenso beindruckend wie die Installation selbst. „Als im März die Förderzusage kam, mussten wir sofort loslegen“, sagt die Künstlerin. Der Bauplan für die Installation war schon fertig, musste aber einige Male umgeändert werden, bis die zuständige Behörde die Genehmigung erteilte. Erst dann konnte mit dem Aufbau der Gitterunterkonstruktion begonnen werden. Zudem musste die benötigte Anzahl PET-Flaschen beschafft werden. Ein Marathon im wahrsten Sinne, bei dem der Hannover Marathon eifrig mithalf, und es Unterstützung von den Kunstfestspielen Herrenhausen, der Caritas und Extaler gab. Schlussendlich gelang es, 40.000 PET-Flaschen zu erhalten.

PET-Flaschen mit IrisDas Ziel des Projekts ist eine sehende Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit

Am 4. Juni startete das Projekt auf dem Georgplatz. Viele Neugierige kamen zu den fünf Burgtürmen, zu diesem Zeitpunkt nur eine Holz- und Drahtkonstruktion, die in den kommenden Wochen mit den tausenden von PET-Flaschen bestückt werden sollten. Die ersten Flaschen wurden von Kerstin Schulz, Jan Tessmer und Lars Adolph von Schwarmkunst e.V., dem Träger des Projekts, eingedreht. „Bereits zwei Wochen später war der tipping point erreicht“, erinnert sich Kerstin Schulz. „Der Moment, wenn erkennbar wird, das etwas entsteht und der Prozess eine gewisse Dynamik erreicht“.

Schwarmkünstler*innen, Begegnungen und Streetwork

Während der Bauphase, die sich über die nächsten beiden Monate erstrecken sollte, gab es nicht nur Schwarmkunst, also das gemeinsame Eindrehen der Flaschen, und die Augenirisfotografie von allen jenen, die dabei mithalfen, sondern auch Beratungen auf dem Platz.
Die Caritas bot zweimal in der Woche eine Gesundheitsberatung für Obdachlose an, fast jeden Werktag war ein Sozialarbeiter vor Ort. Die Leiterin der Wohnungslosenhilfe der Caritas Ramona Pold äußert sich begeistert: „Wir haben hier so viele gute und interessante Gespräche führen können, viel mehr und viel intensiver, als wir es jemals in unseren Büroräumen hätten tun können“. Auch die Straßenambulanz findet wöchentlich den Weg zu den Burgtürmen. Der Anwalt Andreas Sylvester von StiDu e.V. (Stimme der UNgeHÖRTen e.V.) richtete einmal wöchentlich eine ambulante Rechtsberatung ein.

Kerstin SchulzDie Schwarmkünstler*innen Peter, Kerstin und Klaus (v.l.n.r.)

Ein Schwarmkünstler der ersten Stunde, Klaus Ehlers, der täglich mit Leidenschaft Flaschen eindrehte, wurde von dem Projekt inspiriert, seine eigene Installation zu bauen. Sein Titel „Leben im Nichts“ soll darauf aufmerksam machen, dass Wohnungslose auf mehr verzichten müssen als nur auf die Wohnung, dass es ihnen auch an alltäglichen Gegenständen fehlt, wie Tisch, Stuhl, Schrank. Klaus Ehlers ist begeistert von dem Projekt: „Ich bin von Beginn an dabei, ein Ob(D)Acht-Schwärmer der ersten Stunde also. Ich hatte auch vorher schon eine gewisse Affinität zu Installationen und verfüge auch über einiges handwerkliches Geschick, aber es ist das erste Mal, dass ich im Rahmen eines professionellen Kunstprojekts mitarbeiten kann.“ Seitdem ist er täglich auf dem Platz und beschäftigt sich mit Obdachlosigkeit, die er aus eigener Erfahrung kennt, und der Kunst. „Für einen wie mich, der so lange am unteren Limit leben musste, ist das eine wichtige Erfahrung.“

Das Finale: Ausstellungseröffnung und Nebenausstellungen

Am 4. August ist es dann soweit: Die 40.000 PET-Flaschen waren eingedreht, die meisten davon mit Irisfotografien versehen, und die Ausstellung wird offiziell eröffnet. Etwa 800 Personen hatten sich aktiv an der Schwarmkunst beteiligt, so Dr. Jürgen Rink von Schwarmkunst e.V. bei seiner Eröffnungsrede. Während der dreiwöchigen Ausstellungsphase werden weitere 1050 Besucher*innen zu den Veranstaltungen oder einfach zum Schauen vorbeikommen.

AusstellungseröffnungAusstellungseröffnung am 4. August 2022 auf dem Georgplatz in Hannover

Neben der eigentlichen PET-Flaschen Ausstellung waren bis zum 25. August noch weitere Parallelausstellungen auf dem Platz zu sehen, die sich mit dem Thema Obdachlosigkeit beschäftigt haben. Darunter die oben bereits erwähnte Installation von Klaus Ehlers „Leben im Nichts“.
Ulla Neubauer von der Zentralen Beratungsstelle Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werkes Hannover initiierte ein Projekt mit Wohnungslosen zum Thema Wohnungslos in Zeiten der Pandemie, bei der die Auswirkungen der Pandemie auf deren Leben dargestellt werden sollte. Es entstanden viele interessante Kunstwerke.
Die Fotografin Karin Powser zeigte ihre Fotoausstellung „Wohnkomfort in neuem Stil“. Sie selbst lebte bereits als Jugendliche auf der Straße, insgesamt 15 Jahre lang. Dann entdeckte sie per Zufall die Fotografie und begann, ihre Kumpels und ihr Umfeld zu fotografieren. Später fotografierte sie für Sozialdokumentationen. Mittlerweile sind ihre Bilder bundesweit in Ausstellungen zu sehen und mit Preisen honoriert.

Von dem Fotografen Thomas Deutschmann war die Ausstellung Ans Licht zu sehen. Er besuchte 1971 das Obdachlosenlager Vinnhorster Weg in Hannover und fotografierte dort über einige Monate. In den Baracken lebten damals mehr als dreihundert Menschen, darunter viele Familien mit Kindern. Aktuell ist er in einem weiteren Projekt dabei, die Kinder von damals ausfindig zu machen und zu sehen, was aus ihnen geworden ist – sie sozusagen „ans Licht“ zu bringen.

Überschattet wurde die Ausstellungseröffnung vom plötzlichen Tod Volker Kühns. Der ehemalige Schauspieler, seit einigen Jahren wohnungslos in Hannover lebend, war ebenfalls ein eifriger Schwarmkünstler. Vorgesehen war seine Lesung „Lass sich ja nicht mehr hier blicken“. Stattdessen hielt Peter Wefer, Schriftsteller und ebenfalls ehemals Obdachloser, eine bewegende Rede auf Volker Kühn.

„Der Abschluss und der Abbau werden sehr traurig werden“, sagt Kerstin Schulz mit Blick auf das Projektende. So sei es immer, wenn über längere Zeit sehr intensiv mit mehreren Menschen zusammengearbeitet wurde und alle sich in dieser Zeit ein Stück nähergekommen sind. „Aber wir haben ein Zeichen gesetzt, Menschen kamen miteinander in Kontakt. Wir haben mit diesem Projekt zum Nachdenken angeregt – das war das Ziel.“
Ergänzende Lesungen, u.a. von Peter Wefer, sowie Gesprächsforen zum Thema Obdachlosigkeit rundeten die Ausstellung ab. Die Abschlussveranstaltung, bei der der Oberbürgermeister von Hannover Belit Onay Rede und Antwort stand, fand unter dem Motto „2030 - Keine Obdachlosigkeit in Hannover!?“ am 25. August statt.

Autor*innen

  Michaela Birk Förderreferentin NEUSTART KULTUR

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